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Stefan Kolbe und Chris Wright nähern sich mit Puppen der Geschichte eines Mörders an.

© GMfilms

Dokumentarfilm "Anmaßung": Warum uns True Crime so fasziniert

Der Dokumentarfilm "Anmaßung" unternimmt ein gewagtes Experiment: Wie macht man sich ein Bild von einem Mörder, ohne die Tat zu verharmlosen?

Die Zweifel an den eigenen Ambitionen werden früh markiert, Sie stehen in Stefan Kolbes und Chris Wrights Dokumentarfilm schon im Titel: „Anmaßung“. Das lässt sich zuerst als Gruß aus der Küche verstehen: an die Köche selbst. Zum einen ganz grundsätzlich, weil Dokumentarfilm (wie jede journalistische Arbeit) anmaßend ist – wie kann man glauben, einen Menschen in Filmlänge adäquat beschreiben zu können?

Zum anderen funktioniert der Titel im konkreten Fall als Puffer gegen das eigene erzählerische Begehren. Denn der Protagonist von Kolbes und Wrights Film ist ein verurteilter Mörder. Stefan, wie er genannt wird, hat eine Frau umgebracht. Die Faszination, die von einer solchen Figur ausgeht, steht immer unter Vorbehalt.

„Anmaßung“ markiert das Bewusstsein dafür: die Aufmerksamkeit gilt Stefan und nicht etwa dem Opfer einer so monströsen Tat. Die Monstrosität eines Mordes resultiert ja aus dem Rest, der nicht erklärbar bleibt, wenn jemand wie Stefan, das wäre die dritte Ebene des Titels, sich anmaßt, über Tod und Leben eines anderen Menschen zu entscheiden.

„Anmaßung“ ist folglich „kein Film über Stefan“, wie zu Beginn erklärt wird, sondern, „ein Film darüber, wie wir uns ein Bild über ihn machen“. Diese Reflektion hat auch pragmatische Gründe: Von Stefan können keine Bilder gemacht werden, zumindest nicht solche, auf denen er zu identifizieren ist. Die Leerstelle, die das fehlende Gesicht lässt, ist der Raum, den die filmische Erzählung füllen kann.

Puppen stellen den Täter dar

Diese Distanz tut dem Film gut. Sie zwingt Kolbe (Bild) und Wright (Ton und Montage) in die Abstraktion. Die Filmemacher holen sich die Puppenspielerinnen Nadia Ihjeij und Josephine Hock dazu, die die Gespräche mit Stefan an einer Puppe nachstellen, außerdem selbst im Dialog über den Fall im Bild sind.

Wenn Stefans Geschichte zunächst referiert wird als Resultat von Spaziergängen, dann sind Landschaftsbilder zu sehen. Kindheit und Jugend in einer Stadt an der Oder mit Chemiefabrik wird mit Kunst aus dem öffentlichen Raum bebildert: einem steinernen Relief mit werktätiger Bevölkerung und Familie im Sozialismus, das als optischer Marker später wieder in diese Kindheit zurückführt.

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Ein Heranwachsen unter erschwerten Bedingungen. Stefan ist oft krank und steht im sozialen Gefüge seiner Klasse am Rande. Ausbildung, Wende, Jobverlust, Umzug nach Bayern, wo Stefan durch das Kollegium erstmals auch Sozialleben erfährt, mit anderen verbunden ist. Darunter das spätere Opfer.

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Der Film präsentiert dieses biografische Material nüchtern, immer vermittelt als Erzählung Stefans. „Anmaßung“ weiß, dass jeder erzählerische Pfad potentiell in eine Sackgasse führt. Oder zumindest nie auf die Hauptstraße stoßen wird, die auf direktem Wege zum Ziel führt – zu der Erklärung der Tat, dem einen, entscheidenden Grund.

Kein Versprechen auf Hoffnung oder gar Heilung

So tragen Kolbe und Wright lauter Erklärungen, Eindrücke und Beobachtungen zusammen. Darüber, wie Stefan die Zeit im Gefängnis erlebt. Welche Programme er dort durchläuft. Zürcher Ressourcenmodell. Grundkurs Soziale Therapie. Selbstmanagementprogramm. Die stoische Aufzählung relativiert Erwartungen; es sind Angebote, Versuche, in den Abgrund von Bösartigkeit vorzudringen. Kein Versprechen auf Hoffnung, Heilung.

Beim Versuch, alle Informationen zu sortieren, streifen die Filmemacher auch die finanzielle Dimension der Tat: „Ich weiß, was ein Mord kostet“, heißt es in ratlosem Ton, und dann folgen die Summen für Beerdigung, Schmerzensgeld und Prozess. Nicht als Entschuldigung oder aus Mitleid, sondern als protokollarische Notiz gegen die vermeintliche Faszination.

Wenn im zweiten Teil von Stefans Geschichte schließlich das Verbrechen erzählt wird, und das recht genau, könnte man für einen Moment den Eindruck haben, die verzweifelte und ermüdende Suche nach Sinn gehe im Krimi auf – dass dieser Mord auch nur dazu da ist, uns wie in so vielen Filmen und Serien mit Spannung auf Abstand zu unterhalten.

Aber dann versteht man, dass es die Details braucht, um all das betrachten zu können, was der Film als Material in zwei Stunden ausbreitet. Am Ende ist „Anmaßung“ vielleicht nicht klüger im Sinne einer griffigen Erklärung; aber in seiner Umsicht und Genauigkeit, seinen Zweifeln und seiner Selbstreflektion auch ein Kommentar auf die „True Crime“-Begeisterung des Streaming-Zeitalters. Denn was am „Crime“ soll „true“ sein, wenn es „die Wahrheit“ über eine Tat wie die von Stefan gar nicht gibt? (In den Berliner Kinos Acud, Krokodil, Moviemento)

Matthias Dell

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