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Szene aus "Erde". Menschen bewegen täglich 156 Millionen Tonnen Erde, mehr als doppelt so viel wie die Natur.

© NGF / Berlinale

Dokumentarfilm „Erde“: Der Mensch als geologischer Faktor

Atemberaubende Bilder von den Riesenbaustellen dieser Welt: Nikolaus Geyrhalter und sein Dokumentarfilm „Erde“.

Erstaunlich, wie schnell das Kino, kaum dass es digital geworden ist, die analoge Welt wiederentdeckt. Nikolaus Geyrhalter nimmt sich unter dem doppelsinnigen Titel „Erde“ das größte und zugleich eins der kleinsten analogen Phänomene vor: den Planeten und die Erdkrume. Der österreichische Dokumentarfilmer, der seit jeher in geduldig-grandios arrangierten Tableaus Orte erkundet, stellt diesmal auch Menschen ins Zentrum. Der Mensch, heißt es gleich zu Beginn, bewegt täglich 156 Millionen Tonnen Erde, mehr als doppelt so viel wie die Natur.

Sieben Stätten hat Geyrhalter mit seiner Kamera aufgesucht. Eine Riesenbaustelle in der kalifornischen Wüste, einen Braunkohletagebau in Ungarn, das Brenner-Basistunnelprojekt, einen italienischen Marmorsteinbruch, das Atommülllager im ehemaligen Salzbergwerk Asse, eine spanische Kupfermine und Ölsande in Kanada. Sieben Orte, an denen XXL-Bagger, fabrikgroße Bohrer und Sprengkommandos Landschaften verwüsten, Berge versetzen. Es dauerte teils Jahre, um die Drehgenehmigungen zu bekommen. Die kanadische Mineralölindustrie verweigerte Geyrhalter den Zugang, er filmte trotzdem, aus der Ferne und von hoch oben.

Warum ausschließlich westliche Industrieländer? „Ich wollte Hightech-Betriebe zeigen, in denen große Maschinen die Handarbeit ersetzen“, erklärt der Regisseur am Telefon; bis kurz vor der Weltpremiere auf der Berlinale ist er mit der Endfertigung von „Erde“ beschäftigt. Die Technik steigert die Quantitäten, aber auch die moralische Dimension: Vom Gebirgstunnel bis zum radioaktiven Abfall lassen sich mögliche Fehler nicht mehr korrigieren. Die Asse ist seit der Einlagerung in den fortschrittsgläubigen siebziger Jahren längst nicht mehr sicher.

Gleichzeitig Optimist und Realist

Geyrhalters teils atemberaubende Einstellungen – Mondlandschaften mit Riesenmaschinen wie winzige Ameisen, die Marmorkathedralen von Carrara, das wellenförmig sich aufstülpende Land nach einer Dynamitexplosion – spielen ihr Faszinosum als Frage an den Zuschauer zurück. „Das Erhabene, Majestätische zu zeigen, dafür braucht man nicht mal ein guter Kameramann zu sein, man braucht es nur einzufangen“, sagt Geyrhalter. „Man denkt, Wahnsinn, toll, aber was passiert hier eigentlich?“

Geyrhalter ist kein Öko-Aktivist, kein Apokalyptiker, auch wenn am Ende eine kanadische Umweltaktivistin die Verseuchung der Flüsse anprangert. Geyrhalter sagt auch: Wir brauchen die Ressourcen, den Städtebau, wie sonst sollen über sieben Milliarden Menschen überleben? „Ich bin gleichzeitig Optimist und Realist, das schließt sich eigentlich aus.“ „Erde“ ist ein Film über dieses Dilemma.

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Geyrhalter fing an, über den Menschen als geologischen Faktor nachzudenken, als er vor zwanzig Jahren selbst Bagger fuhr. Sie hatten einen Hof erworben, mussten Rohre für die Kanalisation verlegen. „Beim ersten Mal dachte ich, das darf man doch nicht, etwas, das Jahrhunderte unversehrt war, fast ohne Kraftaufwand zu zerstören.“ Nicht mit der Schaufel, sondern mit dem Joystick. Ein Arbeiter in Carrara erzählt von der Jungfräulichkeit des Berges, vom Adrenalinkick des Jobs.

„Homo sapiens“, Geyrhalters Film über die Ruinen der Gegenwart und die Renaturierung havarierter und kontaminierter Orte (Forum 2016), kam ohne Worte aus. Den ruhigen Rhythmus, die weiten Winkel und den dreidimensionalen Ton behält er bei. Ein demokratischer Akt: Der Zuschauer kann wählen, wohin sein Blick schweift, er kann sich frei in den Bildern bewegen. Zusätzlich bittet der Regisseur diesmal die Baggerfahrer und Minenarbeiter vor die Kamera. Was den Blick manchmal einengt, trotz des weitläufigen Bildhintergrunds. „Ich wollte denen eine Bühne geben, die normalerweise nicht zu Wort kommen.“

Die Arbeiter wissen, was sie tun. Sie sprechen über die Notwendigkeit der Eingriffe, über die Folgen, davon, dass die Natur verschwindet, wenn die Bagger kommen. Es gibt keine Grenzen, meint einer. Ist es so?

Die Welt aus Google-Earth-Perspektive. Der 47-jährige Filmemacher weiß um den inflationären Gebrauch von Luftaufnahmen. Aber er wollte die analytische Totale, kaufte Satellitenbilder an, legte Wert auf „stehende“ statt fliegender Drohnenbilder, um mit der Sehgewohnheit zu brechen. Seine Bilder seien auch deshalb „schön“, weil er fürs Kino arbeite. Je leichter das Filmen in Zeiten von Handyvideos sei, desto mehr habe das Kinopublikum ein Recht auf ästhetische Qualität. Schönheit und Gewalt, Mirakel und Menetekel liegen nahe beieinander.

- In den Berliner Kinos Brotfabrik, Bundesplatz, Eva, FSK, Tilsiter, Wolf

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