
© Foto: Gianfranco Rota
Donizetti-Festival in Bergamo: Gesungene Schauerromane
Die norditalienische Stadt Bergamo feiert ihren großen Sohn, den Belcanto-Komponisten Gaetano Donizetti, mit einem Opernfestival.
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Piraten, Geheimgänge, getrennte Schwestern und ein Familiengeheimnis beherrschen die Handlung von Gaetano Donizettis Oper „Chiara e Serafina“. Ein gesungener Schauerroman, zu dem die Musik des jungen Komponisten wirkt wie ein Musterkatalog: Was die erfolgreichen Kollegen können, kann ich auch - und zwar noch besser! Das ambitionierte Werk fiel bei der Uraufführung 1822 an der Mailänder Scala allerdings durch und wurde 200 Jahre lang nicht gespielt.
Beim Donizetti-Festival in Bergamo, der Geburtssstadt des Komponisten, versucht Regisseur Gianluca Falaschi gar nicht erst, die krude Geschichte zu entwirren, sondern setzt noch jede Menge Slapstick und Klamauk drauf . Damit verschenkt er das melancholische Potential des Werks an glitzernde Cheerleader und lächerliche Piratenkarikaturen. Im obligatorischen Schlussrondo der Chiara zeigen alle anderen auf der Bühne demonstrativ, wie langweilig sie die virtuosen Koloraturen der Sopranistin Greta Doveri finden und geben so dem Finale den Rest.
Der junge Komponist steht noch unter dem Einfluss von Rossini
Allerdings wird durchgehend gut gesungen in dieser Kooperation mit dem Opernstudio der Mailänder Scala. Dirigent Sesto Quatrini kümmert sich vorbildlich um die Koordination des Ensembles, während der Farbenreichtum des Orchesters „Gli originali“ ins Hintertreffen gerät. Aber auch so wird deutlich, wie sehr der junge Donizetti noch unter dem stilistischen Einfluss Rossinis steht, des großen Neuerers der italienischen Oper seiner Vorgängergeneration.
Aber dann gibt es aber immer wieder harmonische Wendungen und formale Variationen, in denen der aufsteigende Jungkünstler seinen Anspruch auf eine Vorreiterrolle anmeldet. Für eine komplette Rehabilitierung ist „Chiara e Serafina“ zwar zu unausgegoren, ist aber gerade dadurch das ideale Stück für ein Festival, das die gesamte stilistische Bandbreite des einfallsreichen Komponisten ausbreiten will.

© Foto: Gianfranco Rota
Der Künstlerische Leiter Francesco Micheli hat für sich selbst „L’aio nell’imbarazzo“ aus dem Jahr 1824 ausgesucht. Die komödienüblichen Kommunikationsprobleme zwischen einem extrem strengen Vater und seinen beiden Söhnen erzählt er konsequent als Science fiction im Echoraum von Zoom und Skype. Alle versuchen, mit den Missverständnissen und Fallstricken der Bildschirmgespräche klarzukommen oder die Unwissenheit des Gegenübers zum eigenen Vorteil auszunutzen. Mittendrin agiert der gewitzte Hofmeister Gregorio, vom Bassbariton Alex Esposito mit quirliger Leichtigkeit und virtuosem Witz gespielt, vor allem aber hinreißend gesungen.
Er lenkt die spätpubertären Brüder zum Erfolg und nimmt den erbarmungslosen Vater hart ins Gericht. So sorgt Donizetti mit der dramaturgischen Brechstange für ein Happy End, über dessen Widersprüche munter hinweggesungen wird. Regisseur Micheli lässt die heimliche Ehefrau des älteren Sohns ihren Herrschaftsanspruch anmelden. Sie singt ihre letzte Arie als neue Ministerpräsidentin vor dem römischen Hauptquartier der faschistischen Partei zur Mussolinizeit. So sorgt der Regisseur für eine überraschend tagespolitische Wendung zu den Spitzentönen der souverän gestaltenden Marilena Ruta.
Weil bei diesem Festival alle Werke nach den neuen wissenschaftlichen Ausgaben und ungekürzt aufgeführt werden, kann sich die Komödienmechanik der italienischen Buffoopern ebenso folgerichtig entwickeln wie der tragische Verlauf der französischen Urfassung von „La favorite“. 1840 komponierte Donizetti für die Pariser Oper dieses Drama um einen naiven Ex-Mönch, der sich in die Mätresse des spanischen Königs verliebt. Höfische Intrigen, Liebe und sexuelles Begehren gehen eine unheilvolle Mischung ein, zu der Donizetti eine ganz andere Musik schreibt als für seine italienischen Werke.
Während bei Rossini die Virtuosität und der emotionale Gehalt noch hauptsächlich der Singstimme anvertraut werden, wird hier das Orchester unter dem Dirigenten Riccardo Frizza zu einem ebenbürtigen Partner. Mit subtilen Klangfarben und immer wieder verblüffenden harmonischen Wendungen kommentiert das Orchester die Zerrissenheit des ungleichen Paares. Dabei biegt und dehnt Donizetti die strenge Form der Belcanto-Oper und öffnet den starren Rahmen für seine Nachfolger wie Giuseppe Verdi, der sich immer an diesem Muster orientieren wird.
In den drei Produktionen des Festivals bleibt diese stilistische Entwicklung nicht musikwissenschaftliches Fachwissen, sondern wird durch versierte Interpreten unmittelbar deutlich. Der mexikanische Tenor Javier Camarena präsentiert sich als souveräner Gestalter sowohl der melancholisch verschatteten Szenen als auch der strahlenden Liebeseuphorie mit perfekt sitzender Höhe und hat mit Caterina Di Tonno eine ebenbürtige Partnerin. Regisseurin Valentina Carrasco nimmt die Geschichte ernst und versucht nachvollziehbar zu machen, was das damalige Publikum an dieser kruden Geschichte fasziniert haben könnte. Dadurch werden die abenteuerlichsten Wendungen der Handlung so spannend wie das Leben selbst, so aufregend wie die Musik des einfallsreichsten Komponisten der Belcantoära.
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