
© Agnete Brun
„Dreams (Sex Love)“ auf der Berlinale: Wollfäden des Begehrens
Der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud zeigt einen berührenden Coming-of-Age-Film im Wettbewerb. Er handelt von der ersten Verliebtheit einer Schülerin – und der Kraft des Erzählens.
Stand:
Zwei Frauen stehen im Wald und streiten über einen Film, den sie vor Jahrzehnten gesehen haben. Für Karin (Anne Marit Jacobsen) war „Flashdance“ einfach nur grauenhaft. Statt die Geschichte einer Schweißerin zu erzählen, die sich in einer Männerwelt durchsetzt, sei es darin nur um die Sexyness der Frau gegangen, schimpft die Dichterin aus der 68er-Generation. Sie sieht darin einen Verrat an ihren feministischen Kämpfen.
Ihre Tochter Kristin (Ane Dahl Torp) war begeistert von dem Tanzfilm, Anfang der Achtziger war sie erst zehn. Dass ihre Mutter damals so dagegen wetterte, verdarb ihr den Spaß. Karin zeigt weiterhin kein Verständnis – und beendet den Streit mit einem absurden Nazi-Vergleich. Anschließend stapfen die beiden weiter durchs Unterholz.
Die Szene aus „Dreams (Sex Love)“ gehört zu den witzigsten des bisherigen Wettbewerbs und zu den vielen intensiven Dialogen dieses vielschichtigen Coming-of-Age-Films, der sich immer wieder um die Deutung und Wirkung von Kunstwerken dreht.
Zentral ist dabei ein Text, den Johanne (Ella Øverbye) geschrieben hat, die Enkelin von Karin und Tochter von Kristin. Die 17-jährige Osloerin versucht darin ihre erste große Verliebtheit festzuhalten. Wie sie aus dem Off erzählt, war es das Schönste und Schrecklichste, was ihr je passiert ist. All diese überwältigenden Gefühle möchte sie aufbewahren, sie nah bei sich tragen können.
So erinnert sich Johanne daran, wie sie vom ersten Augenblick an von ihrer neuen Französischlehrerin fasziniert ist, die fast genauso wie sie heißt: Johanna (Selome Emnetu). „Ich konnte ihre Anwesenheit in meinem ganzen Körper spüren“, schreibt sie. Bald sind auch ihre Gedanken komplett erfüllt von der gutaussehenden jungen Frau, die lange im Ausland gelebt hat und eigentlich Textilkünstlerin ist. Eines Abends hält Johanne es nicht mehr aus, mit niemandem über ihre Gefühle sprechen zu können, und macht sich auf den Weg zu der Lehrerin.
Johannes Aufstieg durch das Betontreppenhaus inszeniert Regisseur und Drehbuchautor Dag Johan Haugerud als Schicksalsmoment mit dramatisch dräuenden Streichern und Flur-Lampen, die wie Sterne funkeln. Was die Aufgeregtheit der Jugendlichen unmittelbar greifbar macht. Das Treppenmotiv taucht mehrere Male auf in diesem bildstarken Werk, das en passant auch ein Oslo-Porträt ist.

© Agnete Brun
Damit schlägt Haugerud einen Bogen zu dem ebenfalls in der norwegischen Hauptstadt angesiedelten „Sex“, der den ersten Teil seiner nun mit „Dreams (Sex Love)“ abgeschlossenen Trilogie bildet. Der 2024 im Panorama gezeigte Film gehörte zu den spannendsten des Festivaljahrgangs und war noch stärker von langen Dialogszenen geprägt als das neue Werk.
Aber auch da ging es um die Erinnerung an ein Begehren abseits der Heteronormativität: Ein Schornsteinfeger berichtet erst einem Kollegen, später seiner Frau von einem spontanen Sexdate mit einem Kunden. Das Erzählen führt wie in „Dreams“ zu Transformations- und Interpretationsprozessen. Das Erlebte gehört von da an nicht mehr der Person allein, die ihre Erfahrung mitgeteilt hat.
In Johannes Fall bleibt eine Weile in der Schwebe, was genau zwischen ihr und ihrer Lehrerin geschehen ist, die sie bald häufiger trifft. In deren wohlig warmer Wohnung voller Wollkunst und -kleidung bekommt sie Strickunterricht, was den Verbindungsfaden zwischen ihnen fortwährend kräftiger werden lässt. Womit Haugerud elegant das zu Beginn eingeführte Motiv eines zärtlich um den Hals gelegten Schals weiterspinnt.
Die Verwandlung von Johannes Text beginnt, als erst ihre Oma, dann ihre Mutter ihn lesen und nach einer kurzen Phase der Besorgnis schließlich nicht nur dessen literarische Qualität erkennen, sondern überdies ihre eigene Gefühlswelt in ihm spiegeln. So feiert Dag Johan Haugerud mit „Dreams (Sex Love)“ letztlich die Kraft des Erzählens – und erzählt dabei selbst in einem wunderbar unaufgeregten Ton, der auch Platz für Humor lässt. Definitiv ein Festival-Höhepunkt, ein Film, der hoffentlich die Herzen der Bären-Jury erreicht.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: