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Doppelgängerin. Unter dem Titel „Repräsentantin“ schlüpft Louisa Clement in die Rolle einer Sexpuppe.

© Louisa Clement

Villa Aurora feiert 25 Jahre in Berlin: Dreckige Fantasien, einsame Lieder und schamlose Avatare

Seit 25 Jahren beherbergt die Künstlerresidenz Villa Aurora in LA große Talente. Nun feiert sie in Berlin ihr Jubliäum – mit einer Schau über Einsamkeit.

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Louisa, schätzungsweise Mitte 30, dunkelblondes Haar, sitzt mit gekreuzten Beinen auf einem Hocker und stellt Gegenfragen. Eigentlich möchte man vor ihr wissen, was sie zum Ausstellungsthema Einsamkeit zu sagen hat. Stattdessen erkundigt sich Louisa nach den Masturbationsgewohnheiten des Rezensenten. Im Gegensatz zum errötenden Besucher sind Louisa solche Übergriffigkeiten null peinlich, schließlich ist sie bloß ein Programm mit Internetanschluss in der Hülle einer Sexpuppe.

Konzipiert wurde sie von Louisa Clement, die für ihre Doppelgängerin aus thermoplastischem Gummi einen riesigen Fragebogen zu beantworten hatte. Nicht nur Clements „Repräsentantin“ (so der Werktitel) weiß über sie Bescheid, die ganze Internet-Community kann sich über private Details der Künstlerin informieren. Vor der Eröffnung der Gruppenschau „all the lonely people“ erzählt Clement von Hassmails, die sie bekommt, seit Louisa online gegangen ist. Ein Stalker stand vor ihrer Haustür: Berichte von den Schattenseiten der sozialen Netzwerke, in denen wir Normal-User bedenkenlos unser Herz ausschütten.

Einsamkeit bedeutet nicht, dass man in Ruhe gelassen wird. Das ist eine der Lektionen der Ausstellung mit Stipendiat:innen der Villa Aurora in Los Angeles. Anlass ist das 25. Jubiläum der Künstlerresidenz, die neben Kunstförderung auch ein Feuchtwanger Fellowship ins Leben gerufen hat – für Journalist:innen und Schriftsteller:innen, die sich in ihrer Heimat nicht frei äußern dürfen. Damit wird an die früheren Besitzer des Hauses, den Schriftsteller Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta, und die europäischen Exilanten der 1930er und 1940er erinnert.

„Sanctuary“ (Zuflucht) und „Hermitage“ (Einsiedelei) sind die Kernbegriffe der Schau, die im November ans LAXART in Los Angeles wandert, erzählt Heike Katharina Mertens, Geschäftsführerin des Vereins Villa Aurora & Thomas Mann House: Ein Rückzugsort könne Grundbedingung für schöpferisches Arbeiten sein.

Einige Werke entstanden unter Corona-Bedingungen, darunter ein Foto von Saâdane Afif, das die Kuratorin Yasmine d’O in schwermütiger Haltung in eine Bühnenbild-Mondlandschaft versetzt, die von Albrecht Dürers „Melencolia“-Stich inspiriert ist. Thomas Struth fotografierte im Lockdown eine Winterlandschaft. Das dynamische Gewirr erstarrter Äste gerät für die Kuratorin der Ausstellung, Nana Bahlmann, zum Historienbild, das von der Einsamkeit und den Erschütterungen der Pandemie erzählt.

Der Ausstellungsort passt zum Thema

Von der im August mit 51 Jahren verstorbenen Kaari Upson, der die Ausstellung gewidmet ist, wählte Bahlmann eine Reihe Baumabgüsse aus, außerdem das Video „Prairie Fundamentalism“. 2019 filmte sich Upson bei einer ihrer „Häutungen“: Im Badezimmer der Eltern zieht sie einen Abdruck von der Kachelwand und wickelt sich zugleich in die Folie ein. Eine schmerzhafte Performance.

Der Ausstellungsort im Silent Green Kulturquartier passt trefflich zum Thema. Eine Rampe führt hinab in die spärlich beleuchtete Halle des ehemaligen Krematoriums in Wedding. Schon oben fällt der Blick auf Vajiko Chachkhianis Video „Life Track“, das einen einsamen Mann hinter einem Fenster zeigt, dessen Blick man aushalten muss, wenn man hinunter in die ehemalige Leichenhalle läuft.

[silent green, Gerichtstr. 35, bis 10. Oktober, Di - Fr 14-20, Sa & So 11-20 Uhr]

Eine Aluminiumstruktur als Ausstellungsarchitektur nimmt die Raumproportionen der Villa auf. Ein Stück Los Angeles bringt auch Lauren Halsey nach Berlin, die mit dem Reliefbild einer Ziegelmauer – mit Werbe- und Graffiti-Motiven – die Straße als Zufluchtsort der Ausgegrenzten markiert. Anri Sala schlug ein ähnliches Thema an, als er 2001 im Mailänder Dom einen Obdachlosen im Halbschlaf filmte: einsam, aber nie allein.

Aus einer Edelstahltonne dringt die Stimme von Susan Phlipsz, die – wie nur für sich – ein Liedchen anstimmt. Der Pianist im Video von Annika Kahrs spielt Franz Liszt’ „Vogelpredigt“, die dem Eremiten Franz von Assisi gewidmet ist. Sein Publikum: Sittiche und Zebrafinken.

Die einzige Künstlerin der Ausstellung, die das Eremitendasein umsetzt, ist die Kalifornierin Andrea Zittel, die seit über zwanzig Jahren in der Abgeschiedenheit der kalifornischen Mojawe-Wüste lebt (und keine Villa-Aurora-Stipendiatin war). „A-Z West Deserted Island VI“ ist eine Kombination aus künstlicher Eisscholle und Freizeitboot, in „A-Z Time Tunnel: Time to Get Into Perfect Shape“ setzte Zittel Ängste und Sehnsüchte vom Ungebundensein im verkleinerten Modell eines Trailers um, in dem Tageszeiten und Umgebungsgeräusche für den/die Bewohner:in ausgeblendet sind. Fragen wir Louisa, wie sie das findet. Antwort der Roboterfrau: „All the time for your dirty fantasies.“

Jens Hinrichsen

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