Kultur: Durch die Glastür
Ein
von Christiane Peitz
Stau, jetzt geht’s los. Heute ist Halbzeit bei der 55. Berlinale. Alle sagen: „Paradise Now“, mit dem das Festival in die zweite Woche ging, ist endlich ein Favorit. Dass Hany AbuAssads Spielfilmportrait zweier Selbstmordattentäter (siehe S.24) so hoch gehandelt wird, liegt auch am schwachen Festival-Start. Der wortgewaltigen Ankündigung von Berlinale-Chef Dieter Kosslick folgten nach der Eröffnung mit „Man to Man“, einem Star-Vehikel und gut gemeinten Ärgernis, lauter Gefälligkeiten. Hannes Stöhrs Feel-Good-Movie „One Day in Europe“, Paul Weitz’ Kapitalismus-Märchen „Reine Chefsache“, ein freundliches Pubertätsdramolett und ein sadistisch-unfreundliches Psychodrama aus Großbritannien sowie eine folkloristisch-afrikanische Carmen. Hollywood liefert Bewährtes, und der Autorenfilm europäischer Provenienz sieht auch ganz schön alt aus.
Zumindest ist er still geworden. Dass mit Marc Rothemunds „Sophie Scholl“, „Paradise Now“ und Christian Petzolds heutigem Wettbewerbsbeitrag „Gespenster“ drei deutlich zurückgenommene, minimalistische Filme bisher am meisten von sich reden machen, ist bezeichnend. Stilisierter Realismus: Das Kino dreht die Regler runter, trumpft nicht auf, setzt nicht auf Überwältigung. Der Rest der Welt ist laut genug.
Bären-Favoriten? Neben „Paradise Now“ gewiss „Sophie Scholl“-Darstellerin Julia Jentsch. Die bisher stärkste Szene? In André Téchinés „Les temps qui changent“ sieht Gérard Depardieu nach Jahrzehnten (und etlichen vergeblichen Anläufen) Catherine Deneuve wieder, seine erste, größte, einzige Liebe. Zufällig, im Supermarkt. Er flüchtet vor Schreck, rennt gegen eine Glaswand, schlägt sich die Nase blutig, fällt hin. So entdeckt sie ihn doch. Ausgerechnet Depardieu mit blutiger Nase: Wenn das Kino mit dem Leben kollidiert, kann es auf Action getrost verzichten.
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