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Wen haben wir denn hier? Ist das ein Porträt des echten Autors Eckhart Nickel? Oder eine Fälschung?

© Eckhart Nickel

Eckhart Nickels Roman "Spitzweg": Jede Linie mit Verstand

Herrlich überdrehte Feier des Eigensinns: Eckhart Nickel hat mit „Spitzweg“ einen trickreichen Künstlerroman verfasst.

Eckhart Nickel versteht sich auf geheimnisvolle erste Sätze. In seinem Debütroman „Hysteria“ heißt es zu Beginn: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Dieser schlichte und in seiner Lakonie gleichsam bedrohlich wirkende Anfang verleitete dann auch die Jury beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, bei dem der Schriftsteller 2017 aus dem Manuskript vortrug, zu literarischen Orakelsprüchen.

Nickels neuer Roman, der „Spitzweg“ heißt und auf dessen Cover das Gemälde „Der Hagestolz“ von Carl Spitzweg abgebildet ist, überrascht zum Auftakt mit einer lässigen Bemerkung des Erzählers: „Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.“

Der ironische Ich-Erzähler interessiert sich nicht für Kunst

Doch so durchschnittlich ignorant, wie sich der Abiturient vorstellt, ist er keineswegs. Zwar sind die meisten Werke, die der junge Mann bislang „zu Gesicht bekam“, seiner Meinung nach „entweder unansehnlich oder nichtssagend. Bisweilen auch beides zugleich“.

Doch sein Desinteresse gegenüber der Kunst hält den ironischen Ich-Erzähler nicht davon ab, umgehend in einen kleinen Gedankenmonolog über Sinn und Zweck von Gemälden abzudriften, in dem die zentralen Themen des Romans aufscheinen: „Bevor ich eine Landschaft an die Wand hänge, blicke ich doch lieber durch ein Fenster auf sie hinaus.

Und wenn mir danach sein sollte, einen Menschen zu sehen, bringe ich genau dort einen Spiegel an. Kunst versucht oft, beides zu sein, Fenster wie Spiegel, und kann doch weder das eine noch das andere ersetzen.“

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Kurioserweise ist Eckhart Nickels Literatur genau das: Fenster und Spiegel zugleich. Anstatt aber irgendeine „realistische“ Wirklichkeit abbilden zu wollen, erkundet Nickel die Welt, indem er die menschengemachten Übergänge der Natur ins Künstliche beschreibt. Die Himbeeren aus „Hysteria“ kommen nicht mehr vom Strauch, sondern aus einem Labor von Ökofundamentalisten, die meinen, nur die synthetische Fabrikfrucht schade der Umwelt nicht.

Nickels neues Prosawerk kann daher als gewitzte Spiegelung des Vorgängers betrachtet werden. Denn in „Spitzweg“ wird nun die Kunst zur zweiten Natur der Hauptfiguren – was sich auch literarisch niederschlägt: Alles wirkt in diesem Text artifiziell. Die Szenen gleichen Spitzweg-Miniaturen mit vielen Details, die nicht auf Anhieb erkennbar sind. Auch Nickels Romangemälde ist ein kleinteiliges Erzähllabyrinth, in dem es viele Abzweigungen gibt, erstaunliche Nebenstränge und Reflexionen, die sich erst bei einer erneuten Lektüre zu einem Gesamtkunstwerk fügen.

Cover von "Spitzweg".
Cover von "Spitzweg".

© Piper Verlag

[Eckhart Nickel: Spitzweg. Roman. Piper Verlag, München 2022. 254 Seiten, 22 €.]

Die Handlung, die erst spät als solche erkennbar wird, beginnt mit einem missverständlichen Urteil von Frau Hügel, der strengen Kunstlehrerin. Die Schülerinnen und Schüler sollen ein Selbstportrait anfertigen. Kirsten, das „einzige Talent“ der Klasse, kann schon bald eine „nahezu vollendete Zeichnung“ vorlegen. Frau Hügel aber erklärt mit „tonloser Stimme“, Kirsten habe „Mut zur Hässlichkeit“ bewiesen. Was die sensible Schülerin gar nicht lustig findet.

Immerhin wird die begabte Kirsten von zwei Mitschülern angehimmelt. Neben dem vornehm aus der Halbdistanz berichtenden Erzähler, der bis zuletzt namenlos bleibt, hat auch der charismatische Carl ein Auge auf die junge Dame geworfen. Seine Freizeit verbringt der offenbar universal gebildete Jüngling in einer dunklen Dachkammer, die er „Kunstversteck“ nennt. Ein wenig erinnert die Stimmung in diesem rätselhaften Rückzugsort an Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde „Der arme Poet“, wobei hier kein Regenschirm an der Decke hängt und auch keine gebündelten Manuskriptseiten in der Ecke liegen.

Carl besitzt eine Kopie des Spitzwegs

Tatsächlich besitzt die Romanfigur Carl eine verblüffend perfekte Kopie eines anderen Spitzweg-Bildes, nämlich jenen „Hagestolz“, der einen Junggesellen mit Zylinder in einer Rückenansicht zeigt, wie er spazierenden Paaren hinterherschaut. Angeblich hat Carls Mutter die Spitzweg-Kopie angefertigt. Aber was in diesem Roman ein Original, eine Nachahmung oder gar eine Fälschung ist, bleibt immer in der Schwebe.

Wie sich in „Spitzweg“ ohnehin mit jedem Satz neue Fragen ergeben: Welche Bedeutung hat die Figur des Einzelgängers heute noch oder schon wieder? In welcher Zeit spielt Nickels Roman? Die Geschichte scheint in der Gegenwart angesiedelt zu sein, und doch scheint die Haltung des Erzählers aus fernen Zeiten zu stammen.

Romantik kann Wirkmacht entfalten

Die Gemälde der Romantik jedenfalls, das lehrt uns der kunstsinnige Roman, können auch heute noch eine große Wirkmacht entfalten. In Carls Versteck werden die Gäste nicht nur in geistreiche Gespräche über Musik, Literatur und die Raffinesse von Spitzwegs Bildästhetik verwickelt, hier denken sich die Freunde auch einen durchtriebenen Racheplan aus, um es der Kunstlehrerin heimzuzahlen.

Dabei gibt es auch innerhalb des ungleichen Trios bald Reibereien. Dass Carl sich zunehmend für Kirsten interessiert, gefällt dem Dritten im Bunde aus doppeltem Grund nicht. Der Erzähler möchte weder seine exklusive Freundschaft zu Carl noch seine zarten Gefühle für Kirsten aufgeben. Aber vielleicht liegen den Eifersüchteleien auch nur Fehlinterpretationen zugrunde, und Carl ist doch eine Art Hagestolz, der dem berühmten Gemälde entsprungen ist.

Ein intellektuell angelegter Roman

So intellektuell der Roman angelegt ist, lässt Nickel zum Ende doch noch Spannung aufkommen. Bis zum furiosen Finale samt Verfolgungsjagd im Museum aber darf es um Kunstdiebstahl, Bildervernichtung und um einen Deutschlehrer gehen, der zum Lesen in den Keller geht: in einen perfekt temperierten und angenehm ausgeleuchteten Bücherbunker. Auch dieser Dr. Fant ist ein „völlig abseitiger Kauz“, eine gebrochene, aber gleichsam glitzernde Spiegelfigur, die keine Fenster, sondern nur noch Literatur braucht, um in die Welt zu schauen.

Wir alle, so begreift der Erzähler (und wir mit ihm), suchen uns mehr oder weniger geheime Kunstverstecke. Die Bilderblasen in den sozialen Netzwerken werden zwar nicht erwähnt, und doch lässt sich der Roman auch als Kritik an der Profanisierung heutiger Fotofluten lesen. Nickel bietet ein ästhetisches Gegenprogramm an, fordert die Hingabe zur vermeintlichen Kleinigkeit, die den Unterschied macht, wie beim Abgleich von Original und Fälschung.

So hässlich ist die Welt nicht

„Spitzweg“ ist eine herrlich überdrehte Feier des Eigensinnigen, der fantastischen Schönheit in einer bei allem Globalübel gar nicht so hässlichen Welt. Dabei verkörpert der titelgebende Spitzweg eine Geisteshaltung, die gängige Zeiträume und Geschmacksurteile zu überwinden versucht.

Um alle Details dieses so fulminanten Romans zu beschreiben, bräuchte es wiederum einen Text in Romanlänge. Passenderweise ist dem Buch ein Zitat von Carl Spitzweg vorangestellt, das auch das großartige Schreibmalen des Schriftstellers Eckhart Nickel erklärt: „Jede Linie mit Verstand, alles durchdacht, das Uninteressante interessant.“

Carsten Otte

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