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Ein Hauch von Angst: Das Literaturfestival HeadRead im estnischen Tallinn
Estland ist der baltische Staat mit der größten geografischen Nähe zu Russland. Die innere Distanz zum imperialen Nachbarn hat sich dadurch nicht verringert. Die Schriftsteller des Landes reagieren darauf mit ihren Mitteln.
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Im Frühsommerlicht, auf das die Weißen Nächte folgen, ist Tallinn ganz bei sich. Die Stadt scheint alle Stürme der Vergangenheit überstanden zu haben. Zwischen mittelalterlicher Pracht und luxussanierter Industriekultur, folkloristischer Traditionspflege, Pisa-Spitzenplatz und digitaler Avantgarde macht sie den Eindruck, eine Glücksformel zu beherzigen, die in keinem anderen Land Europas, das unter den Trümmern der Sowjetunion hervorgekrochen ist, so wirkungsvoll aufgegangen ist.
Man kann am Bild dieser Idylle durchaus kratzen. Die relative Armutsquote ist im europäischen Vergleich hoch, und die Spannungen mit Teilen der ethnischen Russen, die ein Viertel der Bevölkerung von 1,3 Millionen Menschen ausmachen, machen sich insbesondere an den Rändern Estlands bemerkbar.
Der Hauch von Angst, den der englische Historiker Simon Sebag Montefiore, ein Besucher Estlands seit der Unabhängigkeit 1991, neuerdings spürt, ist jedoch von subkutanerer Art. Und Montefiore, der beim Tallinner Literaturfestivals HeadRead seinen soeben auf Estnisch erschienenen 1500-Seiten-Wälzer „Die Welt – Eine Familiengeschichte der Menschheit“ vorstellt, ist nicht der Einzige, der ihn ausmacht. Auf die eine oder andere Weise spielt er in fast jede Veranstaltung der fünf Tage Ende Mai hinein.
Verletzliche Flanken
Wie lange, lautet die Frage, lässt sich die estnische Behaglichkeit ohne eine neuerliche Okkupation der Russen noch leben? Bildet das Inselreich vor der Westküste ihr Einfallstor? Hat die Invasion in der Form eines Desinformationskriegs nicht längst begonnen? Was bedeutet es, dass die Suwalki-Lücke, jenes kaum besiedelte Gebiet zwischen Polen und Litauen, für die baltischen Staaten eine weitaus verletzlichere Flanke darstellt? Und welche Sicherheit liegt in der Nato-Mitgliedschaft des Landes?

© Gregor Dotzauer
Womöglich gewährt, wie der estnische Diplomat und Journalist Harri Tiido vermutet, der Ukrainekrieg sogar ein wenig Aufschub. Putin, glaubt er, kann seine gut bezahlten Soldaten nicht zu einem Bruchteil des jetzigen Lohns in ihre Dörfer und Städte zurückschicken, wo sie überdies mit ihren Fronterfahrungen den sozialen Frieden gefährden. Er muss im Fall eines Friedensschlusses woanders einen Krieg vom Zaun brechen.
Die Unruhe steigt aus Bewusstseinsschichten empor, die sich über Generationen hinweg abgelagert haben und, wenn sie denn offen zur Sprache kommen, zum Basso continuo eines Landes gehören, das schon seine erste Unabhängigkeit von Russland im Jahr 1918 nicht lange feiern konnte. Im Zweiten Weltkrieg fielen erst die deutsche Wehrmacht, dann die Rote Armee über Estland her. Über den Ereignissen von damals liegt zwar kein historisches, in vielen Fällen aber ein familiäres Tabu. Über vielen Demütigungen lastet ein Moment der Scham.
Der 1975 geborene Dichter, Dramatiker und Übersetzer Indrek Koff hat es auch erst jetzt geschafft, mit „Ära oota midagi“ (Erwarte nichts) eine von der Kyiver Künstlerin OIena London illustrierte Graphic Novel über seinen Großvater Herbert zu schreiben. Man müsse, sagt seine Gesprächspartnerin, die Erzählerin Lilli Luuk, den Nachgeborenen, die keine Okkupationserfahrung haben, vermitteln, was es heiße, unter einer fremden Macht zu leben.
Die offizielle Gedenkkultur gilt unübersehbar der Bewahrung dieser Erinnerungen. Es braucht aber solche persönlichen Anknüpfungspunkte, um ihr eine innere Wirklichkeit zu verleihen. Der 1971 geborene Schriftsteller Jan Kaus, neben der Festivaldirektorin und Verlegerin des führenden estnischen Verlags Varrak, Krista Kaer, die treibende Kraft hinter HeadRead, weiß noch gut, wie er als kleiner Junge bei den Aufmärschen am Sowjetischen Ehrenmal mitlief, das für eine andere Befreiungsgeschichte stand.
Konträre historische Blicke
Die mit Gittern versperrten Tribünen an der Küstenstraße, unter denen in einer ersten Schicht auch deutsche Soldaten liegen, verfallen sichtlich. Aus den Bodenplatten sprießt Gras. Abreißen ließ es sich gegen den Willen einheimischer Kräfte bisher nicht. Doch in seinem verbrauchten Pathos wirkt das von einem Obelisken beherrschte Ensemble gegen das 2018 eröffnete Mahnmal für die Opfer des Kommunismus gleich nebenan mehr als armselig. Besucher beschreiten zwischen hohen Platten aus schwarzem Dolomit erst einen leicht aufsteigenden Gang, in den die Namen von über 20.000 Toten eingraviert sind, bevor sie in einen Garten mit Apfelbäumen hinaustreten.
Die zweite Strophe von Juhan Liivs Gedicht „Ta lendab mesipuu poole“ (Er fliegt zum Bienenstock) schmückt die Außenwand des bedrohlichen Gangs. In Estland kennt es jeder, auch weil es viele als Lied auswendig können: „Tausende bleiben auf der Strecke / Aber Tausende werden auch nach Hause kommen / Sie erdulden Schmerz und Sorgen / Und fliegen dennoch zurück zum Bienenstock.“ Zahllose metallene Bienen flankieren die Verse.
Auch in der im März 1944 von der Roten Armee großflächig zerbombten Harju-Straße unterhalb des Dombergs prallen die Zeiten aufeinander. Eine Bronzestatue des international bekanntesten estnischen Schriftstellers, des 2007 verstorbenen Jaan Kross, richtet ihren gütigen Blick auf das Haus des Schriftstellerverbands, in dem die Hauptveranstaltungen von HeadRead stattfinden. Der böse Geist hängt als Basrelief in der Seitenstraße.

© Gregor Dotzauer
Der langjährige Verbandsvorsitzende, der Dichter Juhan Smuul (1922–1971), verfasste als junger Mann Stalin-Oden, erschrieb sich aber später aber als Meister maritimer Darstellungen Bewunderung. Erst vor wenigen Jahren stellte sich heraus, dass er 1949 in die „Operation Priboi“, die Deportation von rund 90.000 Esten nach Sibirien, verwickelt war. Mittlerweile ergänzt eine mit der Aufschrift „Schuld und Mitschuld – Die dunkle Seite von Juhan Smuuls Geschichte“ und einem QR-Code versehene Plakette das Denkmal.
Russland, sagt die Schriftstellerin Sofi Oksanen im Gespräch mit Jan Kaus, ist über seine kommunistische Vergangenheit hinaus eine imperiale Macht geblieben, die Verbrechen ohne Strafe begeht und Strafen ohne Verbrechen verhängt. Ihr auf Deutsch schon im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Putins Krieg gegen die Frauen“ dokumentiert eine Entmenschlichung, über deren misogynes Ausmaß sich erst heute ohne falsche Scham sprechen lässt.
Die Verrohung spiegelt sich im Stolz einer russischen Mutter auf ihren Sohn, dessen Freude an der Folterung von Feinden sie teilt: Das zeige, dass sie aus demselben Holz geschnitzt seien. Oder sie artikuliert sich in den Worten einer Ehefrau, die es ihrem Mann erlaubt, an der Front ukrainische Frauen zu vergewaltigen – vorausgesetzt, er benutzt ein Kondom.
Oksanen, die sich immer wieder mit dem sowjetischen Erbe auseinandergesetzt hat, schreibt auf Finnisch, liest und spricht als Tochter einer Estin und eines Finnen aber auch die Landessprache. Ebenso finster sieht die Dinge der ukrainisch-englische Kremlkenner Peter Pomerantsev. Sein jüngstes Buch „How to Win an Information War – The Propagandist Who Outwitted Hitler“ gilt dem gebürtigen Berliner Sefton Delmer. Während des Zweiten Weltkriegs betrieb dieser im Auftrag des britischen Geheimdiensts deutschsprachige Propagandasender, die sich wie NS-Programme anhörten, aber subversive Nachrichten lieferten.
Die russische Propaganda besteht für ihn heute vor allem in der Einführung eines Vokabulars, das Untaten vor dem eigenen Gewissen rechtfertigt. Eine mögliche Antwort sieht er weniger in der wünschenswerten, aber idealistischen Vorstellung von einem Regimewechsel oder der ähnlich problematischen Dekolonisierung imperialen Denkens. Kurzfristig, sagt Peter Pomerantsev, lässt sich Putin nur bezwingen, wenn die Ölpreise massiv steigen oder ihm die soziale Kontrolle über loyale Schichten entgleitet.
Die Reise wurde vom estnischen Kulturministerium unterstützt.
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