Kultur: Ein Herr aus Gründerzeiten
Kommen und Gehen: Direktorenwechsel im Literaturhaus
Kein Kent Nagano geht, kein Frank Castorf. Aber man darf wohl von einem Einschnitt in der Berliner Kulturpolitik sprechen, wenn nun Herbert Wiesner mit 66 Jahren in den Ruhestand tritt. Denn er hat das Literaturhaus in der Fasanenstraße, das erste West-Berlins (und der Bundesrepublik) 1986 gegründet, geleitet und geprägt. Mit ihm geht ein traditionsbewusster Liebhaber der Moderne, dem Neuen gegenüber aufgeschlossen und jeder Anbiederung an Markt und Moden abhold. Der richtige Kandidat also, um die bis heute fast unveränderte jährliche Zuwendung des Landes von gut 380000 Euro nicht in Repräsentationskultur umzumünzen. Der Literaturkritiker Herbert Wiesner hatte in München für den Hessischen Rundfunk und die „Süddeutsche Zeitung“ gearbeitet. Er eröffnete die repräsentative Gründerzeitvilla mit Garten und Café in der Fasanenstraße am 29. Juni 1986, also am Tag des WM-Finales: ein Zufall, aber ein aussagekräftiger. Denn Wiesners Programm blieb stets auf Distanz zur populären Kultur.
Ja, elitär sei es, sagt er heute, und es klingt ein wenig trotzig. Schwierige Autoren habe er dem Publikum nahe bringen wollen: Paul Wühr etwa, Inger Christensen oder Imre Kertész, der lange vor dem Nobelpreis in der Fasanenstraße las. Auch DDR-Schriftsteller waren schon am Westberliner Gründungsabend dabei. Die französische Autorengruppe „Oulipo“ holte Wiesner mehrmals nach Berlin, er verlieh mit dem SFB den Walter-Serner-Preis an junge Autoren und entdeckte so David Wagner. Außerdem zeigt das Literaturhaus Ausstellungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach und erarbeitet selbst Präsentationen zum „Industriegebiet der Berliner Intelligenz“ im Neuen Westen etwa oder über den Flaneur Franz Hessel. Seit kurzem gibt es eine gemeinsame Internetadresse deutschsprachiger Literaturhäuser unter www.literaturhaeuser.net , einen gemeinsamen Literaturpreis und im Sommer wieder eine Plakat-Offensive: „Poesie in die Stadt“.
Dennoch geriet das Literaturhaus in den letzten Jahren in die Kritik. Seit Literatur zum Event geworden ist und Lesungen die Theater, Ländervertretungen, Botschaften, Kneipen, sogar das Kanzleramt erobern, erproben das Literarische Colloquium am Wannsee und die Literaturwerkstatt in der Kulturbrauerei neue Formen, von der Autoren- und Kritikerdiskussion bis zum Themenabend. Das Literaturhaus setzt weiter vorwiegend auf die Einzellesung mit Wasserglas und Gespräch und sieht angesichts der Konkurrenz mit ihren flotten Titeln, Themen und Marketingmaßnahmen manchmal ein wenig alt aus – andere nennen es puristisch. Außerdem klagen einige Verlage und ausländische Botschaften über mangelnde Kooperationsbereitschaft, und manche der sorgfältigen, aufwändigen Ausstellungen des Hauses verzeichneten weniger als 1000 Besucher.
Das Literaturhaus spielt mit seinen internationalen und deutschen Autoren zwar in der ersten Liga, doch sind Ermüdungserscheinungen unübersehbar und nach 17 Jahren vielleicht auch gar nicht vermeidbar. Der Kultursenator kürzte 2002 die Zuwendungen an das Literaturhaus und das Literarische Colloquium um je 25000 Euro und empfahl eine Verwaltungskooperation. Davon ist inzwischen keine Rede mehr. Aber dass Herbert Wiesner jetzt ausscheidet, obwohl sein Vertrag noch ein halbes Jahr läuft, ist kein Zufall: Das Literaturhaus spart mit seinen Personalkosten exakt die Kürzung ein. Der Direktor geht zum Wohle der Institution.
Zu grundlegenden Veränderungen sieht Ernest Wichner, zunächst für ein Jahr sein Nachfolger, allerdings keinen Anlass. Schließlich hat er es als Stellvertreter von Wiesner seit 1988 mitentwickelt. Aber Wichner, 51, selbst Schriftsteller (zuletzt: „Alte Bilder.Geschichten“) und als Rumäniendeutscher 1977 nach Berlin gekommen, möchte dafür sorgen, dass das Haus wieder stärker besucht wird, und das nicht nur bei den Veranstaltungen, die durch Medienpartner beworben werden. Er möchte am liebsten „jeden Abend“ eine Veranstaltung bieten: ein Angebot an den Spaziergänger im Zentrum.
Eine deutlichere Öffnung des Hauses zur Stadt hin wünscht sich auch der neu gewählte Vorstandsvorsitzende des Literaturhauses, Detlef Bluhm vom Verband der Berliner Buchhandlungen und Verlage. Er verspricht „neue Akzente“. Sie sind sicher notwendig, damit Wiesners Lebenswerk auch in Zeiten knapper Kassen, verschärfter Konkurrenz und veränderter Rezeptionsbedingungen eine gute Adresse bleibt.
Herbert Wiesner, der sich einst einen „Berlin-Azubi“ nannte, bleibt in der Stadt. Er wird eine Ausstellung und einen PEN-Kongress organisieren und sicher immer wieder für die präzise Anwendung des von ihm erfundenen Begriffs „Literaturhaus“ streiten. Wer leichthin auch andere öffentlich geförderte Literaturinstitutionen so bezeichnet, dem pflegt er in aller Freundlichkeit zu entgegnen: „Es gibt nur ein Literaturhaus in Berlin.“
Und das soll auch so bleiben.
Herbert Wiesner verabschiedet sich am 28.2. mit einer langen Nacht der H. C. Artmann-Gedichte. Ab 20 Uhr lesen im Literaturhaus in der Fasanenstraße Hans Christoph Buch, Adolf Endler, Elke Erb, Rolf Haufs, Uwe Kolbe, Ursula Krechel, Oskar Pastior, Klaus Reichert, Hans Joachim Schädlich, Ulf Stolterfoht und Richard Wagner.
Jörg Plath