
© IMAGO/H. Tschanz-Hofmann
Ein Leben in Briefen: Oscar Wilde und seine Schriften aus dem Gefängnis
In neuer Übersetzung unter dem Titel „Aus der Tiefe“: Oscar Wildes erschütterndes Gefängnisdokument „De Profundis“ und seine „Ballade aus dem Zuchthaus Reading“.
Stand:
Was fehlt, ist eine Antwort. Überliefert ist bloß Oscar Wildes legendärer Lebensbrief „De Profundis“, sein letztes großes Prosawerk, eine gewaltige, herzzerreißende Klage, zärtliche Liebesbekundung und zugleich geschliffene, bitterböse Abrechnung.
Adressat ist der junge Lord Alfred „Bosie“ Douglas, der frühere Geliebte des 1854 in Dublin geborenen Iren, Familienvaters und wohl bekanntesten, jedenfalls elegantesten, eloquentesten und skandalösesten Schriftstellers des späten viktorianischen Englands.
Geschrieben wurden die knapp 200 Seiten 1897 im Gefängnis von Reading, wo der Verfasser des schwarzromantischen Romanklassikers „Das Bildnis des Dorian Gray“ einsaß. Zwei Jahre zuvor war der notorische Dandy wegen „grob sittenwidriger Handlungen mit anderen männlichen Personen“ für schuldig befunden und zu zwei Jahren Haft und Zwangsarbeit verurteilt worden. Verklagt hatte ihn Lord Alfreds Vater, der Marquess of Queensbury.
„Der posierende Sodomit“
Dem Prozess vorangegangen war die berühmte Episode um jene Visitenkarte, auf die Queensbury die Worte „Für Oscar Wilde, den posierenden Sodomiten“ geschrieben hatte. Wildes erfolglose Klage wegen Verleumdung ging bekanntlich nach hinten los. Trotz der Interventionen wohlmeinender Freunde und nicht zuletzt seiner Mutter floh er nicht aus England, obgleich er die Gelegenheit gehabt hätte, sondern war so naiv und blind in seiner Hybris, sich als prominente Persönlichkeit für sakrosankt zu halten. Das war er nicht. Die Konsequenzen waren fatal.
In der sehr schönen, feinsinnigen Neuübersetzung von Mirko Bonné ist jetzt „De Profundis“, das 1905 in Auszügen und 1963 erstmals vollständig erschien, wieder aufgelegt worden, ergänzt um weitere Gefängnisbriefe etwa an den engen Freund Robert Ross, den Herausgeber des „Daily Chronicle“ oder den britischen Innenminister, sowie die tragische „Ballade vom Zuchthaus Reading“, Wildes lyrisches Vermächtnis.
Kernstück des Bandes aber bleibt die erschütternde literarische Beichte, die selbigem – auf Deutsch – den Titel verleiht, „Aus der Tiefe“. Und tief und schwer sind die Gedanken und Schilderungen dieses Lebensromans in Briefform, aus dem sich eine eigene Aphorismen-Sammlung extrahieren ließe, zudem ist er ungeheuer vielschichtig und stilistisch schlicht brillant. Wilde at its best sozusagen.
Zunächst ist da das erniedrigende Bild des schillernden Hedonisten in Sträflingskleidung. An Durchfall und Entkräftung leidend sitzt er, dem Wahnsinn nahe, in einer winzigen und kargen Zelle seine Haft ab. Den Gefängnisalltag beschreibt er anschaulich und kritisch, macht sich sogar Gedanken um die Reformation des Vollzugssystems.
Die Einzelverwahrung ist für einen Menschen wie ihn, der von Gesellschaft und dem Londoner Salon-Leben zehrte wie kein zweiter, wohl das Grausamste. Jedes Buch, das er in die Finger bekommt, ist eine kurzfristige Erleichterung, mühsam errungene Schreibutensilien wirken lebensrettend.
Ein Hauptthema des Briefes sind die durch „Bosie“ erlittenen Verletzungen, die er schonungslos, wenngleich nicht ganz ohne Selbstmitleid benennt – er fühlt sich von ihm finanziell, künstlerisch und emotional ausgenutzt, sein ganzes Leben habe er ruiniert –, wie gerecht er dabei verfährt, ist eine andere Frage.
„Das schlimmste Laster ist Oberflächlichkeit“, schreibt Wilde in dieser Innenschau – ausgerechnet er, der im „Dorian Gray“ noch verkündete: „Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.“
Jetzt aber schlägt er neue Töne an, entwickelt ein Bewusstsein für tiefere Schichten, begibt sich auf eine Art Sinnsuche und streift dabei auch religiöse Fragen – am Ende seines Lebens wird er zum katholischen Glauben konvertieren. Nach seiner Haft verlässt er England, trifft erneut Lord Douglas und verbringt einige Zeit mit ihm, bis es zur endgültigen Trennung kommt.
Wilde, der lange die Klischeevorstellungen eines homosexuellen Mannes prägen sollte, starb 1900 in Paris. Seit 1967 ist die Liebe unter Männern in England nicht mehr strafbar, erst 2017 wurden Tausende aufgrund ihres Schwulseins einst verurteilte Personen rehabilitiert. Einer davon war dieser unvergleichlich geistreiche Schriftsteller.
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