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In memoriam Claus Peymann (1937-2025)

© IMAGO/Rudi Gigler/Bearbeitung: Tagesspiegel

Ein letzter Gruß an Claus Peymann : Goethe, Gegenwart und Marmelade

An diesem Freitag wird der große Theatermann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin begraben. Der Dramatiker Moritz Rinke erinnert sich an späte Begegnungen mit Peymann

Stand:

Besuch bei Peymann, im Slevogtweg in Köpenick, Ostern 2022. In der Tür einer alten, denkmalgeschützten Villa steht er, ganz in Schwarz und führt mich durch den Garten bis zum angrenzenden Wald, mit märkischen Kiefern und zwitschernden Vögeln. Wir schreiten das ganze Anwesen ab: Osterglocken, ein Fuchs, der gewütet hat, eine kleine Theaterbühne, die im letzten Sturm eingestürzt ist. Die Sonne bricht durch die grauen Wolken.

„Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick …“, müsste der Mann jetzt eigentlich sagen, wie Faust beim Osterspaziergang. Goethe. Und er ist wirklich wie Faust, denke ich, dieser Claus Peymann, der alte Bremer. Und ich bin Wagner, der Schüler …

Peymann flucht über die Wildschweine, die seinen Zaun überwunden und die Blumenzwiebeln aufgefressen haben. Den Pudel wie bei Goethe gibt es nicht, dafür steckt der Mephisto aber vielleicht in einem dieser Wildschweine, überlege ich. Wir essen geröstetes Brot mit selbstgemachter Marmelade aus dem Garten. „Es ist die beste Marmelade, die Sie in Berlin kriegen! Ich habe immer die besten Inszenierungen gemacht und jetzt mache ich die beste Marmelade!“

Faust oder Mephisto

Das stimmt, denke ich. Im Gegensatz zu Faust brauchte Peymann nie einen Mephisto, um größenwahnsinnig zu werden und das Unmögliche zu wollen, weil der Mephisto vermutlich schon immer auch in ihm selbst steckte. Faust und Mephisto zusammen. Ich habe auch großartige und größenwahnsinnige Peymann-Inszenierungen gesehen: Bernhards „Heldenplatz“ mit Marianne Hoppe, „Richard III“ mit Gert Voss, „Die Hermannsschlacht“ von Kleist, leider nur im Fernsehen. „Die Marmelade ist auch außergewöhnlich, Herr Peymann“, sage ich und esse ein Brot mit der Konfitüre nach dem anderen.

„Ach, die Marmelade! Ich will wieder inszenieren, ich bin 84 und das Gegenwartstheater, das ich sehe, ist zahnlos, opportunistisch!“ Ja, denke ich, er kommt ja aus einer Zeit, als das Provozieren noch half. Und Theaterskandale die Welt zu verbessern schienen, da war Peymann wirklich wie Mephisto, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Ein Haus voller Bücher

Im ganzen Haus Bücher, überall Bücher: Thomas Bernhard, Walter Benjamin, Hans Henny Jahnn, Ionesco, Shakespeare, Kleist, Brecht. Es sieht aus wie bei Goethe im „Faust“. Überall Schriften, auch Zeitungen – er liest den Tagesspiegel. Zwei Nachrufe auf Herbert Achternbusch und den Fußballspieler Jürgen Grabowski liegen aufgeschlagen auf dem Sekretär. Ich sehe ein Handke-Manuskript auf dem Sofa. „Handke ruft mich jede Woche an und beschimpft mich, dabei habe ich ihn erfunden, so wie ich auch Bernhard erfunden habe!“

Er schiebt mit einem Ruck die von ihm erfundene Marmelade beiseite und führt mich ins Korrespondenzzimmer. Unzählige schwarze Ordner mit Briefen von Bernhard, Handke, Jelinek, Turrini, Brasch – es würde mich nicht wundern, wenn es auch Briefe von Goethe gibt.

„Ein Brief von Rinke ist hier auch irgendwo!“, sagt Peymann, „zwischen Reinshagen und Rühmkorf. Ich habe ein Stück von Ihnen abgelehnt, in den besten Momenten fast wie Botho Strauß!“ „Wirklich?“, ich erröte und schaue ihn ungläubig an. „Aber Ihnen fehlten die Visionen, allen fehlen die Visionen! Aber jetzt, wo Sie von meiner Marmelade gegessen haben, wird sich das ändern, jetzt würde ich Sie inszenieren! Aber wo? Wo?!“

„Bremen?“, sage ich leise. „Bremen … Bremen! Da begann alles! In der Kirchbachstraße aufgewachsen, Gymnasium in der Hermann-Böse-Straße, von der Schule geflogen, dann Oberschule am Waller Ring! Bremen hat mich erfunden! Die Kirchbachstraße und die 68-Bewegung haben mich erfunden! Lassen Sie uns jetzt sofort Bremen aufmischen!“

„Aber in Bremen machen Sie nur Projekte, Theaterstücke mögen die dort nicht“, sage ich. „Dann bringen Sie unbedingt zuerst ein Glas von dieser Marmelade nach Bremen ins Theater! Sie werden sehen, was dann passiert: Meine Marmelade theatralisiert!“

König mit Pappkrone

Als ich Peymann das letzte Mal sah, an seinem 85. Geburtstag, saß er in seinem Garten in Köpenick auf einer kleinen, hölzernen Freilichtbühne. Er hatte seinen Gästen die Anweisung gegeben, ein Foto aus ihren Kindertagen mitzubringen. Er ließ alle Fotos an eine Wäscheleine hängen und berief eine Jury, die die Trägerinnen und Träger des „Vergänglichkeitspreises“ zu ermitteln hatte.

Er fluchte wie der Theatermacher Bruscon bei Bernhard; er träumte wie Prinz Homburg von Kleist – und er war oft so böse wie Richard III. von Shakespeare.

Moritz Rinke, Dramatiker

Und so stand irgendwann Peymanns Gärtner mit seinem Kinderfoto neben der berühmten Schauspielerin Ilse Ritter („Ritter, Dene, Voss“, Thomas Bernhard!), und der Theaterdirektor ließ Vergänglichkeitspreise in Form von Gläsern seiner Marmelade aus den Brombeeren seines Gartens überreichen. Es waren vielleicht seine letzten Regieanweisungen. Und ein Mädchen setzte ihm noch eine Papierkrone auf.

Sein ewiger Theaterdramaturg Hermann Beil, der die Geburtstagsrede hielt, sprach dann über den Wahnsinn und den Größenwahnsinn seines ewigen Theaterdirektors. Wahnsinnig sein zu können, ohne wahnsinnig zu sein, das sei Kunst, sagte Beil.

Wien nimmt Abschied vom langjährigen Direktor des Burgtheaters.

© AFP/Tobias Steinmaurer

Vielleicht war Peymann selbst immer das beste Theater. Man wusste bei ihm eigentlich nie, ob er sich nicht vielleicht selbst in einem Stück oder in einer Inszenierung wähnte. Er fluchte wie der Theatermacher Bruscon bei Bernhard; er träumte wie Prinz Homburg von Kleist – und er war oft so böse wie Richard III. von Shakespeare.

Vielleicht saß da wirklich eine lebendige, echte Theaterfigur mit Papierkrone auf der Gartenbühne in Köpenick, dachte ich. Vielleicht müsste man diesen Peymann selbst in Anführungszeichen wie einen Titel: „Peymann“ – ein Theaterstück zwischen Erfindung und Leben.

Irgendwann sagte Peymann auf seiner Geburtstagsfeier, dass er sich hier im Garten aufbahren lasse, eines Tages, wenn er einmal tot sei. Er wolle hier auch sterben – im Sommer, naturgemäß auf der Freilichtbühne vor den Brombeersträuchern. Und so geschah es. Er starb in diesem Sommer, am 16. Juli. Vor ein paar Tagen wurde Claus Peymann in Wien auf der Feststiege des Burgtheaters aufgebahrt. An diesem Freitag wird er in Berlin, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, begraben. Am 25. Oktober wird das Berliner Ensemble, das er so lange geleitet hat, in einer Matinée seiner gedenken.

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