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Sinnliche Rätsel. W. S. Merwin, Jahrgang 1927, erhielt zweimal den Pulitzer-Preis für Dichtung.

© picture-alliance/ dpa

Lyrikbände von W. S. Merwin: Ein unverändertes, nie gezähmtes Erstaunen

Späte Offenbarung: Dieses Jahr erscheinen gleich zwei Lyrikbände des amerikanischen Dichters und Pulitzer-Preisträgers W. S. Merwin auf Deutsch.

Man muss keine Romane schreiben, um „An einen Freund auf Reisen“ zu denken, wie eines seiner Gedichte heißt. This is like one of those letters / written on a mountain / in China more than / a thousand years ago: „Und alles ist wie einer dieser Briefe / die vor über tausend Jahren / auf Berggipfeln / in China entstanden“. W. S. Merwin ist ein Meister der unvorhergesehen Zusammenhänge. Erstaunlich, dass der bald 91-Jährige, der zu den Bewunderern Ezra Pounds, den Freunden von Ted Hughes und Sylvia Plath, den kulturellen Protagonisten der Anti-Vietnam- und der ökologischen Bewegung gehörte und nach langen Jahren in Europa (auf einem Bauernhof in der Dordogne) seit über drei Jahrzehnten auf Hawaii lebt, erst jetzt im deutschen Sprachraum intensiver wahrgenommen wird. Seine Verse in der Auswahl und geschmeidigen Übersetzung von Hans Jürgen Balmes sind jedenfalls eine Entdeckung.

Das perfekte Gedicht scheint für Merwin jenes zu sein, das die Dinge in der Schwebe belässt. Das sich nicht im Ungefähren verliert, die Dinge durchaus in ihrer Konkretheit benennt, ihnen aber zugleich eine überraschende Wendung gibt. Bei Tomas Tranströmer hat man studieren können, wie so etwas geschieht, und es mag sein, dass Merwin unter den heutigen Dichtern diesem Ideal am nächsten kommt.

Ökokritik und große Poesie

Übersetzer Hans Jürgen Balmes bringt uns jedenfalls einen Dichter nahe, der im Vergangenen ebenso daheim ist wie im aktuellen Moment, der mit den Troubadours so intensiv Zwiesprache hält wie mit den Chinesen der Tang-Zeit. Merwin kennt ihre Bilder und Figuren, um sie mit seiner Gegenwart zu amalgamieren. Seine Gedichte feiern das Vermögen, noch die einfachsten Dinge so zu sagen, als würde man sie zum ersten Mal erblicken. So feiern seine Zeilen an den Mai nicht irgendeinen, sondern genau diesen Mai und dessen Transparenz, die in den Worten aufgehoben ist: „Sie wissen heute so viel mehr / über das Herz sagt man aber die Welt / scheint immer wieder auf einmal eins zu sein / ein Tag ein Jahr eine Jahreszeit und hier / ist wieder Frühling mit seinen Vögeln / die in Mauerhöhlen nisten / sein Morgen findet zum ersten Mal / zu seinem Licht das vorgibt immer schon / zu beginnen wie zu schwinden“ („An diesen Mai“).

Zur einleuchtenden Lektüre trägt auch Merwins Verhältnis zu Natur und Landschaft bei. Er registriert die Differenz zwischen ökologischer Fülle und lyrischer Tradition der Vergangenheit und der Schwundstufe von „Natur“ im sogenannten „Anthropozän“. Ähnlich wie sein kalifornischer Kollege Gary Snyder zeigt er, dass Ökokritik und große Poesie einander nicht ausschließen.

Ruhiger, mäandernder Sound

Neben dem kursorischen Blick der Hanser-Ausgabe in mehr als ein halbes Jahrhundert Merwin-Poesie präsentiert der von Susanne Opfermann und Helmbrecht Breinig mit Akribie und Treue zum Original besorgte Band „Der Schatten des Sirius“ Merwins vielleicht zentrales Alterswerk aus dem Jahr 2009. Für „The Shadow of Sirius“ wurde Merwin 2010 zum Poet Laureate der USA gekürt. Unentwegt durchmischen sich hier Zeiten, Räume und Personen im Strom einer durch Atmosphäre, Landschaften und Jahreszeiten schweifenden Erinnerung. Einer Erinnerung, die das Bleibende außerhalb ihrer selbst sucht: in Licht, Regen, einer Abendstimmung, dem englischen Wörterbuch (einem Erbstück aus dem Jahr seiner Geburt), „einem jener Schmetterlinge“ oder den Wörtern der nicht wiederkehrenden Vögel, die nurmehr durchs Bewusstsein treiben. „der Kuckuck war in diesem Mai / wieder nicht zu hören / noch seit vielen Jahren der Ziegenmelker / noch die Misteldrossel Singdrossel Dorngrasmücke / die Mönchsgrasmücke die Mendelssohn unterwiesen hat / ich habe sie gesehen / ich habe gestanden und gelauscht / ich war jung / sie sangen von Jugend / und wussten nicht dass sie für uns sangen.“

Merwins Gedichte siedeln im ätherischen Moment, der Gedichten vorbehalten ist. Weil es manchmal nichts zu sagen gibt, und es eben nur Gedichten gelingt, jenen Schwebezustand hervorzubringen, der sprachlos macht: „ein unverändertes Erstaunen / das nie gezähmt worden ist oder benannt / noch in der Hand gehalten / noch jemals ganz gesehen / aber es ist noch immer dasselbe / eine Vision vor den Nachrichten eine Gabe / des Fliegens in einem Traum / von klaren Tiefen wo ich weit und / unerreichbar die leuchtenden Tage gewahre / aus denen ich heute gemacht bin“.

Merwins Verse in ihrem ruhigen, mäandernden Sound sollten gleichsam in Zeitlupe ausgekostet werden, mit angehaltenem Atem: „ich berühre den Tag / ich schmecke das Licht / ich erinnere mich“.

William S. Merwin: Nach den Libellen. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Hanser. München 2018. 144 Seiten, 19 €.

William S. Merwin: Der Schatten des Sirius. Gedichte. Aus dem amerikanischen Englisch von Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 2018. 242 Seiten, 19,95 €.

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