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Ilse Aichingers 100. Geburtstag: Erinnerungen an eine große Schriftstellerin
Von ihrem Tisch im Wiener Kaffeehaus "Demel" aus erforschte sie die Welt: zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Ilse Aichinger.
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„Immer dieselben Wege gehen“: So lautete ein Ratschlag Ilse Aichingers an sich selbst. Anfang des Jahrtausends, als die über Achtzigjährige nach einer Schaffenspause erneut Produktivität entfaltete, hielt sie sich an die eigene Maxime. Jeden Vormittag verließ sie ihre Wohnung im ersten Wiener Bezirk, um das Kaffeehaus Demel aufzusuchen. Dort verweilte sie bis zum Nachmittag, um danach ins Kino zu gehen.
Einmal in der Woche, immer am Donnerstag, schrieb sie im Demel eine Glosse für die Tageszeitung „Der Standard“. Es sollten Reisefeuilletons sein, und weil Aichinger ihr Wohnviertel nur selten verließ, nannte sie ihre Berichte von imaginären Ausflügen nach New York und Odessa, zu Joseph Roth in die Kapuzinergruft und nach London-Hampstead zu Elias Canetti, „Unglaubwürdige Reisen“. Unter diesem Titel erschienen sie 2005 bei S. Fischer, dem Verlag, für den Aichinger seit 1949 als Lektorin, dann als Verlagsassistentin gearbeitet hatte.
Sie sammelte Fundstücke des Alltags
Vier Jahre zuvor, 2001, hatte Aichinger unter dem Titel „Film und Verhängnis“ eine Art filmographische Autobiographie veröffentlicht. Wie sie dort anhand erinnerter Filmszenen, unbekannter und unheimlich-vertrauter Fotografien, von Anekdoten und Erinnerungen über Schauspieler und Orte der Filmgeschichte, das eigene Leben als vergessenes Fremdes vor Augen treten ließ, so waren die „Unglaubwürdigen Reisen“ Gelegenheitsreisen an Orte, zu denen statt eines Verkehrsmittels eine Zeitungsnotiz, eine Postkarte oder ein Kreuzworträtsel führte.
Die Objekte, die den Ausgangspunkt der Reisen bildeten, sind wie die Filmstills, an denen sich die Erinnerung kristallisierte, den fragmentarischen Texten beigefügt. Auch Aichingers letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Band „Subtexte“ folgt dem Gestaltungsprinzip des Albums, das Fundstücke des Alltags zusammenstellt.
Dass man das Eigenste nicht bei sich selbst, sondern in Relikten des Alltags wiederfindet, ist eine Erfahrung, die alles verbindet, was Aichinger geschrieben hat. Wenn bis heute vor allem der 1948 erschienene Roman „Die größere Hoffnung“ von ihr bekannt ist, hat das damit zu tun, dass sie die für sie später charakteristische Form damals noch nicht gefunden hatte.
Den Naziterror überlebte sie in verschiedenen Verstecken
Über ihren Mann Günter Eich, den sie 1951 kennengelernt hatte, in die Gruppe ’47 eingeführt, orientierte sie sich am Neorealismus der Kahlschlagliteratur. „Die größere Hoffnung“, aus der Perspektive einer Fünfzehnjährigen geschrieben, verarbeitete biographische Erfahrungen: Aichinger, Tochter einer jüdischen Ärztin, hat nach dem „Anschluss“ Österreichs in wechselnden Verstecken überlebt, ihre Zwillingsschwester Helga kam 1939 mit einem Kindertransport nach England. Ihre Großmutter und mehrere Tanten wurden im Vernichtungslager Maly Trostinez ermordet.
Das Werk lässt sich als Allegorisierung dieser Erfahrungen verstehen. Doch beginnend mit dem 1976 erschienenen Band „Schlechte Wörter“ tritt die Unmöglichkeit sprachlicher Vermittlung ins Zentrum. Orts- und Familiennamen werden, etwa im Lyrikband „Verschenkter Rat“, zu Sprachkristallen, in denen sich eine Geschichte verschließt, die sich nicht erzählen lässt. Von diesem Zeitpunkt an hat Aichinger bis zu ihrem Tod 2016 immer weniger geschrieben. Die Prosa jener Jahre, etwa die Sammlung „Kleist, Moos, Fasane“, liest sich, changierend zwischen Lyrik und Epigramm, wie die Skizze zu einer Dichtung, die darauf wartet, dass jemand anders ihr erklärt, was sie ist.
Eigentlich habe sie immer nur versucht, einen Satz zu finden, mit dem alles gesagt wäre, hat Aichinger behauptet. Die Vorliebe für das Verschwinden, die sich in ihrem Werk wie in ihrem Leben Ausdruck verschaffte, hatte nichts mit Bescheidenheit zu tun. Sie verdankte sich der Gewissheit, dass das Wichtigste an einem Menschen nicht rein in ihm selbst aufbewahrt ist, sondern in dem Subjektfernen, von dem er zeugt. Deswegen macht es nichts, dass Aichinger nie den Büchner-Preis bekommen und ein halbes Dutzend der Ehrungen, die ihr verliehen wurden, abgelehnt hat. Auch wenn sie nicht mehr da ist, wird sie an ihrem Tisch im Demel sitzen und die Leute beobachten, die sie nicht mehr sehen.
Magnus Klaue
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