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„Thyestes“ in der bildmächtigen Inszenierung von Thomas Jolly, der auch den mörderischen König Atreus spielt.

© Festival Avignon/Christophe Raynaud de Lage/Han

Eröffnung Theaterfestival Avignon: Der Papstpalast bebt

Auftakt beim Festival in Avignon: Thomas Jolly mit dem Seneca-Drama „Thyestes“ und Julien Gosselins Terror-Recherche nach Don DeLillo sezieren die Gegenwart.

Seine Tat wird die Welt auf immer verändern. Sie stört die Zeitordnung so nachhaltig, dass keiner seiner Nachfahren jemals ein normales Leben wird führen können. Atreus ermordet in Senecas Tragödie „Thyestes“, die der 36-jährige Thomas Jolly im Papstpalast von Avignon inszeniert, die Söhne seines Bruders und setzt dem ahnungslosen Vater deren Fleisch als Festmahl vor. Des König Atreus gelungener Staatsanschlag muss jeden Terroristen entzücken, denn er löst ein, was dieser anstrebt: Das Ende der Ordnung, der Beginn einer Epoche, in der Angst und Schrecken übernehmen.

Bei Don DeLillo und seinen drei Romanen über die Genese des modernen Terrorismus verhält es sich eher umgekehrt. Je tiefer sich seine Protagonisten in die Logik der Attentäter hineinarbeiten, umso mehr werden sie zurückgeworfen auf die ewige Logik ihrer Existenz. Julien Gosselin hat diese Literatur zu Theater gemacht, zu einem epochalen, überwältigenden Zeugnis des scheinbar stehen gebliebenen Mühlrads der Geschichte.

Thomas Jollys „Thyestes“-Inszenierung und Julien Gosselins „Mao II, Joueurs, Les Noms“ bilden den Auftakt des diesjährigen Theaterfestivals in Avignon. Sie stürzen sich auf die große Frage: Mythos versus Epos, wer kann die größere Deutungsmacht für die Schrecken der Gegenwart beanspruchen?

Jolly greift tief in das Repertoire der griechischen Mythologie. Ein raumfüllender Unheilssound, grelle Lichtbündel, die im Himmel zusammenlaufen, ein vom Wind zerzauster Bühnennebel. Plötzlich taucht in der Mitte der gewaltigen Bühne eine grünlich schimmernde Fabelgestalt auf: Tantalos kommt geradewegs aus der Unterwelt, umringt von einer Schar gruselig geschmückter Kinder.

Schmucklose Welthaltigkeit in theatralischem Mythengetöse

Regisseur Jolly spielt den Atreus selbst: Im gelben Anzug mit grüner Plexiglaskrone, in seinen Bewegungen immer wieder erstarrend, ein verunsicherter König, der von Angst getrieben scheint, dem unbeherrschbarsten aller Handlungsmotive. Vor zwei Jahren hatte er in der Rolle von Shakespeares Unrechtskönigs „Richard III“ einen furiosen Theaterpunk gezeigt, einen Bösewicht der Rhetorik, jetzt zeigt er den Atreus als Figur, die in Jämmerlichkeit beginnt und in fühllosem Sadismus endet.

Die Sonne wendet sich vor Horror über die innerfamiliäre anthropophage Schandtat aus ihrer Bahn und lässt die Erde in Dunkelheit versinken. Jolly bebildert das, indem er das kranke, fahle Licht eines großen, am entfernten Ostturm befestigten Scheinwerfers auf die Bühne fallen lässt, auf der sich die Kinder und Jugendlichen des ansonsten aus dem Off tönenden Chornachwuchses zweier Opernhäuser versammelt haben. Ein stummes Bild schmuckloser Welthaltigkeit im theatralischen Mythengetöse.

Florence Dupont hat Seneca äußerst schlank und fast schmucklos übersetzt und damit viel dafür getan, dass dieser dramatisch so unergiebige Stoff dem zeitgenössischen Verständnis und dem gewaltigen Papstpalastpublikum zugänglich gemacht wird. Denn hier treten, anders als in griechischen Tragödien, weniger Figuren auf als allegorische Seelenzustände: die pure Trauer, die pure Wut. Seneca, der Philosoph und Stoiker, schrieb die Blutgeschichte als Warnung vor der Terrorherrschaft und als Aufforderung zu Milde und Nachsicht, sicher auch als eine Botschaft an seinen Herrscher Nero, der sie allerdings nicht hören wollte. Es ist im Kern ein Kammertheater, ein kleines Nachdenkstück, eine Blutparabel, die in Jollys Operninszenierung überfrachtet wird, womöglich aus Angst vor der Herausforderung des Spielortes mit seinen 2250 ausverkauften Plätzen.

Doppelturm des World Trade Centers als Menetekel

Spätestens nach 1968 weiß man, dass der Terror eines der herrschenden Verhältnisse ist und jede Personalisierung zu unerwünschter Mythenbildung beiträgt. Was denen geschieht, die sich dennoch auf die Suche nach dem Kern des Terrorismus der Jahre1970 bis 1990 machen, das erzählt, mit Don DeLillo das 31-jährige Regiewunderkind Gosselin. In einer der Handlung vorangestellten Filmsequenz mit Dokumentarfilmaufnahmen aus dem New York vergangener Jahrzehnte ist immer wieder der Doppelturm des World Trade Centers zu sehen, eine historische Stadtmarke, die die Zeitenrechnung vor und nach dem 11. September 2001 kennzeichnet und als Symbol auf die wirklichkeitsverändernde Macht des Terrorismus verweist.

In DeLillos Romans „Die Spieler“ von 1977 ist Pammy im World Trade Center tätig, ihr Juppiefreund Lyle arbeitet als Händler an der Börse. Beide sind wohlstandsbeschädigt, beziehungsmüde, blasiert und zynisch. Sie vertreiben sich die Zeit mit Seitensprüngen und aufgedrehtem Geplauder mit Kollegen und Freunden. Dann wird Lyle an seinem Arbeitsplatz Zeuge eines Anschlags, dem sein Chef zum Opfer fällt. All das sieht der Zuschauer im ersten Teil einer zehnstündigen Mammutproduktion auf einer großen Leinwand, deren ungemein sauber gearbeitete Bilder an John Cassavetes, David Lynch, an Jim Jarmusch und Ingmar Bergman erinnern.

Später öffnet sich die Vorderwand, und diverse Innenräume werden sichtbar, werden zur Bühne für die mittlerweile bekannte Dichotomie aus physischem Spiel und filmischer Dopplung. In Gosselins Gesamtkunstwerk aus Schrift, Film, Musik, Theater geht es aber nur oberflächlich um das immer wieder auftauchende Motiv des Terrorismus, von dem abendländischen Linksterrorismus in der Folge des Vietnamkriegs bis zu Anschlägen im Nahen Osten. Denn für das naive Revolutionsgerede und für schematisches Denken hat Julien Gosselin nur Ironie parat.

Das Klima ist schneidend im Kapitalismus

Ihn interessiert, wie das allmählich verändernde Klima im Kapitalismus, die zunehmende Gewalt in die Körper und Seelen eindringt , wie sie mit der Frustration eines uneinlösbaren Glücksversprechens umgehen. Die Zweifel des alternden Schriftstellers an der Macht von Literatur und sein Hadern mit der Sprache erzählt „Mao II“, im berührenden Mittelteil des Triptychons. Hier verkörpert der wunderbare Frédéric Leidgens den Schriftsteller Bill Gray. Der stellt sich die Frage, ob die Literatur die Imagination der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts nicht längst an die Terroristen abgegeben hat. Die überfallen jetzt das Bewusstsein und nicht mehr die Literaten.

DeLillos Zweifel an der Literatur in Bezug auf das präzise Einfangen von Eindrücken, Gosselins Zweifel am konventionellen Theater beim Greifen nach den zeitgenössischen Gefühlswelten, das ergibt ein breites, figurenreiches Epochenepos. Hier wird einmal nicht mit fadenscheiniger Ästhetik eine phrasenhafte Botschaft illustriert; hier entfalten ganze Schichten künstlerischer Präzision ein szenisches Eigenleben, das für die schnelle politische Mitteilung nicht taugt.

In Gosselins melancholischem Blick auf die Geschichte der 1970er bis 90er Jahre gibt es im Brüllen der Zeit immer wieder Momente tiefer Nachdenklichkeit. Es ist und will Überwältigungstheater sein, ist suchtbildend, könnte immer weitergehen bis zur Erschöpfung, da mit jeder neuen Figur eine weitere Farbe ins Spiel kommt, eine weitere interessante Variante von menschlicher Überlebensstrategie.

Eberhard Spreng

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