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Charlotte Kraft, 30

© Willy am Minke/Verlag

Erzählungen von Charlotte Krafft: Zukunft macht Spaß

Nickende Palmen, romantische Sci-Fi-Räume: Die Berliner Autorin Charlotte Krafft erzählt in ihren aufmüpfigen Geschichten von Leben in anderen Welten.

Zu den Verdiensten des jungen, in Berlin-Kreuzberg angesiedelten Korbinian Verlags gehört die stets gelungene Gestaltung seiner Buchcover, von der die großen Konzernverlage, aber auch die unabhängigen mittelständischen noch einiges lernen könnten.

Der Korbinian Verlag ging aus dem Avantgarde-Kollektiv Rich Kids of Literature hervor. Die Autorin Charlotte Krafft ist eine von diesen Literaturkids und hat für ihren Erzählband gleich zwei Cover bekommen, ein „Wendebuch“ also. Es kann von beiden Seiten begonnen werden und trägt demnach zwei Titel: „Die Palmen am Strand von Acapulco, sie nicken / Eine endlose Geschichte über den Tod in einer fremden Welt“. (Korbinian Verlag, Berlin 2020. 160 Seiten, 16 €.)

Die Geschichten muten durch eine weissagende Erzählstimme märchenhaft an, spielen aber in der nahen Zukunft – oder ganz woanders, im Abseitigen.

In „Das Werden und das Verschwinden“ stößt eine junge Frau online auf einen sonderbaren Artikel: Ein Wesen berichtet darin von seiner Umwandlung zu einem „Elter“ – einem Kind, dass durch die eigene Vorstellungskraft neue Eltern hervorbringt, sogenannte Kindereltern, um schließlich selbst wieder auf die Welt zu kommen. Dieses Kind hatte „nie ein kälteres Gefühl erlebt als dieses, diese Kälte und diese Angst, aus der Obhut einer überlegenen Instanz vertrieben worden zu sein, weil sie einem zu klein geworden war.“

Krafft versteht sich als Vertreterin der "Hyperironie"

Die junge Frau hat Grund zu der Annahme, dass entgegen aller Erwartungen eine einfühlsame Künstliche Intelligenz über ihr „Elter“-Dasein schrieb.

Die Erzählerin stößt schließlich auf das sogenannte Manchester-Theorem. Die gleichnamige Theorie existiert tatsächlich. Sie geht davon aus, dass jede menschliche Entwicklung zwangsläufig über Industrialisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz und damit zur Auslöschung des Menschen führen würde.

Dann zerstört die KI sich selbst, nicht ohne vorher die Grundlage für neues Leben zu schaffen – vielleicht also „Kindereltern“. Die Annahme findet auch die Erzählerin strittig. Interessant aber ist, wie Charlotte Krafft diesen Gedanken durchspielt und eine Welt entwirft, der die unsere nicht mehr fern ist: „Das war im Frühjahr 2022, die Debatte über Maschinenrechte schien gerade ihren Höhepunkt erreicht zu haben.“

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Mit ihren anderen Texten versetzt Krafft die Leserin in ein über- oder nichtmenschliches Bewusstsein oder auf Planeten mit immenser Sonneneinstrahlung. Ein Forscherteam in der Arktis macht eine sonderbare Entdeckung. Eine körperlose Stimme lebt mit Androiden am Strand von Acapulco.

Entlang dieser Sci-Fi-Erzählungen wirbelt zudem ein übermütiger Fantasy-Strudel. Darin sagen Wahrsagerinnen den Ursprung des Bösen voraus, verliert eine Mutter Mann und Sohn, weil ein Fabelwesen sich ihrer bemächtigt, schweben Zombies vor dem Eingang einer lebendigen Höhle herum oder bildet sich ein nihilistischer Stadtführer ein, die Geschichte neu zu schreiben.

Krafft erzählt von anderen Planeten und Seinszuständen. Deren eigenwillige Logik führt die 1991 in Berlin-Wedding geborene Autorin mit ihrer großmütterlichen Erzählweise ad absurdum und versprüht damit einen widerspenstigen Charme. Sie versteht sich auf fixe Dialoge, und ihre Darstellungen sind sehr lebendig.

Genüsslich beschreibt Krafft die Eigenheiten ihrer Figuren: Höhlenbewohner hocken mit „den Köpfen zwischen die Knie gelegt und atmen ihre Bäuche an. Es tut ihnen gut. Sie fühlen sich wie Föten im Bauch. Das beruhigt alle.“ Kraffts Welten haben Parallelen zu unserer Gegenwart, auch Trauer, Depression und Zweifel finden sich dort. Gerade das Menschliche im Nicht-Menschlichen ist beklemmend. Trotz der fühlbaren Nähe zu diesen Wesen kann man sie nicht greifen. Man bleibt hinter ihnen zurück.

Wer kennt schon den Schwachsinn der Zukunft?

So ansteckend Kraffts Fantasievermögen aber ist, mitunter läuft ihre Übertreibung ins Leere. Die wirren Logikketten sind auf Dauer ermüdend, einige Erzählungen enden abrupt und unbefriedigend flapsig. Verkrampft versucht die Leserin, einen Sinn im Abseitigen zu erkennen. Diese Irritation mag mit ihrer Idee von einer „Hyperironie“ zusammenhängen, die die Autorin in einem Essay für das Hamburger „Wetter“-Magazin beschrieb.

In der „Süddeutschen Zeitung“ kam sie auf diese Idee noch einmal zurück: „Romantisch ironische oder auch hyperironische Science-Fiction, das wäre eine Science-Fiction, die sich weder ernst noch rhetorisch ironisch gibt – eine spekulative Literatur, die Kontingenz zum poetischen Prinzip macht, zum Beispiel, indem sie Welten entwirft, deren Bestandteile so fremd sind, dass sie an Fantasy oder Dadaismus anmutenden Schwachsinn grenzen, ohne, dass man sie zweifelsfrei als Schwachsinn identifizieren könnte, denn wer weiß schon, was in der Zukunft schwachsinnig ist und was nicht.“

Wenn sich aber die abstrakten Überlegungen zu Wahrheit, Wirklichkeit und Zukunft nicht aufklären und alles egal ist, dominiert der „Schwachsinn“.

Ein Weg, Kraffts quecksilbriges Schreiben zu fassen, wäre die Zuordnung zum Nicht-Genre „The New Weird“, einer Literaturströmung zwischen Fantasy, Sci-Fi und Horror. „New Weird“ folgt keiner nachvollziehbaren Logik, weil es von dem erzählt, was außerhalb des menschlichen Bewusstseins liegt. Traum, Fantasie, künstliche, pflanzliche und tierische Intelligenz – was wir nicht begreifen, erscheint zwangsläufig seltsam.

Lena Baumann

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