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Kultur: Esther Shalev-Gerz: Engel im Gepäck

Die Fotografien leuchten, sie sind geradezu trunken von Licht. In so unverschämtem Orange strahlen die Kasernen der ehemaligen SS-Mannschaften, dass man sie für harmlose Mehrfamilienhäuser halten könnte.

Die Fotografien leuchten, sie sind geradezu trunken von Licht. In so unverschämtem Orange strahlen die Kasernen der ehemaligen SS-Mannschaften, dass man sie für harmlose Mehrfamilienhäuser halten könnte. "Was will ich hier eigentlich sehen, welchen Schrecken fühlen", fragte sich Esther Shalev-Gerz, als sie 1999 von Weimar nach Buchenwald fuhr. Denn die Normalität des Gesehenen erscheint kaum weniger absurd als der Wunsch, das Monströse der Vergangenheit möge sich zeigen. Von dieser Kluft zwischen Bedeutung und Erscheinung eines historischen Schauplatzes erzählt die Künstlerin mit Fotografien, einem Video, einer Textcollage und Objekten in ihrer Ausstellung "Unzertrennliche Engel" (Preise auf Anfrage). Die Bilder zeigen die Straße von Weimar nach Buchenwald, die Reste der Bahndämme, die friedlich wie eine antike Ausgrabungsstätte vom Wald eingefasst wird, einen Schotterplatz und wieder die Straßen von Weimar. Dabei sind die Konturen der Dinge aufgelöst, mehrfache Belichtungen liegen übereinander und bringen die fassbare Wirklichkeit ins Schweben - als könnten die Augen nichts mehr festhalten und der Boden unter den Füßen hätte zu schwanken begonnen.

1999 wurde Esther Shalev-Gerz, die vor allem durch ihre Projekte mit Jochen Gerz bekannt geworden ist, in die Kulturhauptstadt Weimar eingeladen. Sie fuhr gleich zu Beginn ihrer Recherche mit dem Taxi von Weimar nach Buchenwald und nutzte ihre Videokamera aus Gewohnheit. Für den Taxifahrerwar sie eine normale Touristin, doch seine Kommentare, die trafen kurz und knapp die Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit. Das Video der Fahrt, aus dem auch die Fotografien stammen, hat sie überarbeitet, den Bilderfluss verlangsamt und Zitate von Franz Kafka, Paul Klee, Walter Benjamin und Gershom Scholem eingefügt. Sie alle erzählen von Engeln. Im Mittelpunkt steht der "Angelus Novus", eine Zeichnung von Paul Klee, der durch einen Text von Walter Benjamin als "Engel der Geschichte" in die Literatur eingegangen ist.

Die Texte bilden einen Faden, der von Weimar nach Jerusalem führt und durch die Arbeit der Künstlerin, die in Jerusalem Bildhauerei studierte, auch wieder zurück. Fünf Jahre lang war Paul Klee Lehrer am Bauhaus in Weimar gewesen, bester Beweis für die Freiräume der Kunst im programmatischen Gefüge. "Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige (...)", zitiert Shalev-Gerz aus seinen Kriegstagebüchern von 1915, "Abstraktion. Die kühle Romantik dieses Stils ohne Pathos ist unerhört. Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt." Mit diesem Text verharrt das Bild selbst an einer Schwelle zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, an den Bahnsteigen, die in den Tod führten. Und man weiß, dass einem selbst jetzt das Ausweichen in die Abstraktion nicht offen steht und man die Konkretion aushalten muss, die alles ausbuchstabiert und nichts erklären kann.

"Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert", schrieb Walter Benjamin 1940 über den Engel von Klee, der ihn selbst auf seiner Flucht begleitete. Die Zeichnung ist in ungezählten Reproduktionen zu einem Zeichen der Verbundenheit mit Benjamin geworden, lange bevor in Port Bou eine Skulptur an das Ende seiner Flucht und seinen Selbstmord erinnerte. Sie wird in Jerusalem im Israel-Museum aufbewahrt, ein Geschenk von Gershom Sholem, der den Nachlass Benjamins erhielt.

Aus Bildern werden Texte, aus Texten wieder Bilder in der Lektüre von Esther Shalev-Gerz. Die Geschichte klingt verwickelt; aber das ist jede Geschichte, die von jüdischen Intellektuellen in der Zeit des Nationalsozialismus erzählen will. Die Vorstellungen von Vertreibung, Flucht und erzwungener Ortlosigkeit finden in der Rede vom Engel, der in anderen Räumen existieren kann, ihr Gegenbild. Ihm darf gelingen, woran seine Erzähler scheitern müssen, sich in ein geistiges Jenseits zu retten.

Katrin Bettina Müller

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