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Buchpreisgewinner:in Kim de l’Horizon auf dem Göttinger Literaturherbst.

© dpa / Stefan Rampfel

Expedition in die Leerstelle: Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ – poetisch, schroff, queer

Der Roman wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet: Kim de l’Horizon erkundet in „Blutbuch“ eine Familiengeschichte und sucht dabei nach einer eigenen Sprache.

Von Anja Kümmel

„Die Wunde ist das Land der Heilung“ – dieses Zitat von Tabita Rezaire stellt Kim de l’Horizon dem ersten Kapitel des eigenen Debütromans „Blutbuch“ voran. Neben vielen anderen, wohlgemerkt. Auch Gilles Deleuze, Virginia Woolf und Donna Haraway sind dabei – Namen, die bereits fest im (pop)kulturellen Gedächtnis verankert sind.

Doch bildet das Zitat-Potpourri eben kein Who- is-Who ohnehin bekannter Größen der Literatur- und Philosophiegeschichte ab, sondern beruht auf einer intersektionalen und interdisziplinären Praxis der Vernetzung und Solidarität, die auch den Roman durchzieht.

Heraus sticht das Zitat der französischen Künstlerin, Yoga-Lehrerin und Gong-Therapeutin Rezaire, die derzeit mit einigen Arbeiten im Berliner Gropius-Bau vertreten ist. Anklänge an die Beuys-Installation „Zeige deine Wunde“ werden wach, doch stehen bei Rezaire wie bei de l’Horizon weniger die radikale Selbstentblößung als vielmehr Fürsorge, Reparatur und Heilung im Vordergrund.

Zunächst wirkt die Geschichte, die Kim de l’Horizon in „Blutbuch“ erzählt, roh, direkt, ja bisweilen schmerzhaft intim: Kim heißt die Erzählfigur, und sie ist nichtbinär – sprich: weder Mann noch Frau, genau wie de l’Horizon selbst.

Sie wächst auf in einem Vorort von Bern, mit einer Mutter (im Berndeutschen „Meer“), die ihre Studienpläne aufgegeben hat, um für ihr Kind zu sorgen, und einer Großmutter (im Berndeutschen „Grossmeer“), die zwar den Klassenaufstieg geschafft hat, ihre Herkunft aus einer armen Bauernfamilie jedoch weiter in sich trägt. In der Erzählgegenwart schwindet Großmeers Erinnerungsvermögen, was dem Roman, bei aller Verweigerung klassischer dramaturgischer Spannungselemente, eine gewisse Dringlichkeit verleiht.

Dieses Schauermärchen von bloß zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter.

Aus „Blutbuch“

Mit Mitte 20 stellt sich Kim der eigenen Vergangenheit und spürt der weiblichen Abstammungslinie nach, in der es viele Lücken und noch mehr Ungesagtes, aber auch viel Kraft und überraschende Queerness gibt. Es geht um traumatische Abwesenheiten im Familiengedächtnis. Um das Verschwinden zweier Schwestern der Großmutter, über die nur in Floskeln gesprochen wird.

Um die Blutbuche als Status-Symbol („so was wie der geleaste Maserati, die gefälschte Louis-Vuitton-Tasche beziehungsweise die cheapeste Rolex des 19. Jahrhunderts“) und darum, wie „dieser pretty fancy Baum“ in den Garten der Großmutter kam. Und, immer wieder, um Kims Hadern mit der eigenen Genderidentität, oder besser gesagt: mit den gewaltvollen Zuschreibungen, die von klein auf an das Erzähl-Ich gerichtet werden.

Hin- und herspringend zwischen den Zeitebenen, nehmen wir zugleich am Selbstermächtigungsprozess der Hauptfigur im Jetzt teil: Ihren Versuchen, mit anonymen Sex-Dates die Grenzen des eigenen Körpers abzustecken, dem Eintauchen in die Schwulenszene Zürichs, der Ernüchterung angesichts der einengenden Normen und Codes, die auch dort herrschen.

In diesen Passagen dominiert ein zorniger, treibender Ton, der manchmal beinahe Manifestcharakter annimmt: „Dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter. Ohne mich, ihr Bäcker des Bestehenden.“ Doch sind Form und Duktus in „Blutbuch“ ähnlich fluide wie das Erzähl-Ich selbst. Nahtlos wechselt das Register von nonchalant-ironisch zu schroff und schnoddrig, von wissenschaftlich-essayistischen zu soghaften lyrischen Passagen im Stil eines Ocean Vuong.

Kims Geschichte, so viel ist klar, ist „nichts, was sich zu einem wohltemperierten Familienroman zusammenhämmern liesse“. So wird die Suche nach einer Form, in der sie erzählt werden kann, zum zentralen Strukturprinzip des Romans.

„Wie sehen Texte aus, wenn nicht ein menschliches Meistersubjekt im Zentrum steht und die Welt begnadet ins Förmchen goethet?“ fragt sich das Erzähl-Ich, und bewegt sich Stück für Stück weg vom linearen Narrativ, von geschlossenen Identitäten, dem Anschein einer Gewissheit. Allein diese Meta-Ebene, die immer wieder das Erzählte als eine von vielen Möglichkeiten entlarvt, bricht den Eindruck einer realistischen Lebensbeichte.

Die Sprache eröffnet einen queeren Möglichkeitsraum

Vielleicht würde sich de l’Horizon der pointierten Aussage des belgischen Schriftstellers und Psychoanalytikers Serge André anschließen, sein Roman „Flac“ sei „zu tausend Prozent autobiografisch“, denn darin seien „hundert Prozent Autobiografie plus neunhundert Prozent Hinzugefügtes enthalten“. Zur Opulenz und Radikalität von de l’Horizons Prosa würde das Statement jedenfalls passen.

Die „Meersprache“ bedeutet für Kim sowohl Zuhause als auch Bedrohung. Eine Emanzipationsbewegung ist notwendig, um sich von ihrem ambivalenten Erbe zu lösen, von den normativen Zurichtungen, der Zweigeschlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität, die sie impliziert.

Zugleich jedoch eröffnet die Sprache dem queeren Ich Möglichkeitsräume, sich selbst (neu) zu definieren. Das Hochdeutsch der wissenschaftlichen Exkurse, die auf Englisch verfassten und mit dem Online-Übersetzungsprogramm Deepl übersetzten Briefe, die Sex-Chats auf Grindr & Co., all diese Kommunikationsarten entfernen Kim von Meer und Grossmeer, sind Befreiung und Verrat.

Darin steckt natürlich eine Menge Édouard Louis oder auch Annie Ernaux – doch findet de l’Horizon eine eigenständige, eigenwillige Ausdrucksform, die unweigerlich immer wieder an ihre Grenzen stößt und dabei ganz unprätentiös das eigene Scheitern mitdenkt. „Blutbuch“ erzählt weniger von Klassismus, Sexismus und Transphobie, als vielmehr die biografischen Brechungen auf sinnliche, beinahe viszerale Weise in Worte zu transformieren – etwa wenn von Grossmeers Mokkalöffelchen die Rede ist als „Gegenstand in einer Fremdsprache für diese Hände“.

Wir können die sozialen Strukturen, die uns formen, wir können unsere vererbten Wunden nicht einfach abstreifen. Und ja, die Sprache selbst ist vergiftet. Dennoch steckt in ihr auch die Chance einer Heilung. Oder, wie Kim es ausdrückt: die Hoffnung, „dass mensch sich an den Rändern seiner Geschichte gegen die Geschichte wehren kann“.

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