
© imago images/Rudolf Gigler
Fesselung und Entfesselung: Ein Lob des Vibraphonisten Christopher Dell
In Ludwigshafen wurde er soeben mit dem SWR-Jazzpreis, der ältesten und renommiertesten Auszeichnung ihrer Art, geehrt. Porträt eines virtuosen Freigeists, der in seiner Musik Brücken zwischen Pierre Boulez und Gary Burton schlägt.
Stand:
Der Zufall hat viele Namen. Im Alltag hört er auf Wörter wie Glück oder Pech, und man wappnet sich gegen seine Überrumpelungsversuche am besten, indem man fest und zuverlässig mit ihm rechnet. Die Annahme „Love Is Just Around the Corner“ ist so berechtigt wie „Shit happens“.
Die Mathematik tritt dem Zufall in der Stochastik mit der Modellierung von Wahrscheinlichkeiten entgegen. Die Philosophie spricht, als Gegenpol zum schlechthin Notwendigen, von Kontingenz. Und die Musik hat sich in ihren Diskursen auf den Begriff der Aleatorik verständigt. Formal eingehegt gilt ihr der Zufall mittlerweile sogar eher als Befreiung denn als Bedrohung.
In seinem „Alea“ (Würfel) überschriebenen Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik im Jahr 1957 hat Pierre Boulez, der ordnungswütige Chef-Serialist der europäischen Nachkriegs-Avantgarde, diesen „diabolus in musica“ am Schwanz zu packen versucht. Zwischen den überholten Dogmen der westlichen Musiktradition und einem strukturbasierten Improvisieren, wie er es in der indischen Musik am Werk sieht, zwischen dem Bestimmten, dem Ungewissen und dem Unbestimmten, der Domäne von John Cage, mit dem er sich schnell überwarf, dringt er auf eine Versöhnung der Sphären.
Wunderkammer und Materiallager
Boulez endet mit dem faszinierenden Gedanken, dass der Zufall womöglich der einzige Weg sei, das Unendliche festzuhalten, es einen Moment lang zu begrenzen, in seiner ungebremsten Ausdehnung stillzustellen. „Fixer l’infini“, heißt das auf Französisch, in Anverwandlung eines Zitats aus „Igitur“, einer Prosa des großen poetischen Würfelspielers Stéphane Mallarmé.
Wenn ich mich Christopher Dells musikalischen Laboren und Wunderkammern hier über die theoretischen Materiallager nähere, hat das neben seinem Sinn für serielle Verfahren, die er ausdrücklich Pierre Boulez entlehnt, auch einen lebensgeschichtlichen Grund. Die Ideen, von denen seine Musik genährt wird, lagen von Anfang an vor seiner Haustür.
Der Erfahrungsraum der indischen Kultur, in die er, 1965 noch in Darmstadt geboren, während seiner ersten fünf Jahre eintauchte, weil der Vater in Ranchi, der Hauptstadt des Bundesstaats Jharkhand, an einem College Theologie lehrte, war nicht das Andere. Sie war für ihn das zunächst Natürliche, die Begegnung mit Geräuschen, Klängen und Gerüchen, die zu einer Musikkultur sich horizontal entfaltender Geflechte, zu Talas und Ragas, gehörte.
Darmstädter Erweckungserlebnisse
Die vertikalen, Harmonie, Polyphonie und Kontrapunkt einschließenden Architekturen der europäischen Musik, lernte er, zurückgekehrt nach Darmstadt, erst als braver Klavierschüler kennen. Für den Darmstädter Gymnasiasten lagen sodann die Ferienkurse, damals Debattenzentrum der Neuen Musik, in Gestalt der Georg-Büchner-Schule, seiner Schule, in fußläufiger Entfernung.
Dort erlebte er Karlheinz Stockhausen und Earle Brown. Und schließlich ging er beim ersten eingetragenen Studenten dieser Ferienkurse, dem Darmstädter Urgestein Hans Ulrich Engelmann, zum Kompositionsunterricht.
Wie einer wird, was er ist, und wie er aus dem, was ihm zufällt, etwas macht, das sich nicht als Laune des Schicksals anfühlt, das ist das Geheimnis jeder folgerichtigen Entwicklung. Es handelt sich um die Erzählung von jener Kontingenz, die der amerikanische Philosoph Richard Rorty als uns aufgegebene Grundlage individueller Selbsterschaffung sieht.
Sie wird der zufallsblinden Prägung jeder einzelnen Biografie, wie Rorty auf den Schultern von Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche sagt, nur gerecht, indem sie zwischen „dem Streben nach Erschaffung des Selbst durch Erkenntnis von Kontingenz und dem Streben nach Universalität durch Überschreitung von Kontingenz“ vermittelt. Eine Herausforderung, die auch Pierre Boulez gefallen könnte.
Wo kommt bei alledem nun aber der Jazz ins Spiel, in dessen Namen Christopher Dell mit dem SWR-Jazzpreis ausgezeichnet wird? Ein Begriff, den er für seine Soloauftritte und DLW, das Trio mit Christian Lillinger und Jonas Westergaard, seit Langem scheut.
Wo steckt der Teenager, der von Milt Jackson, dem Vibraphonisten des Modern Jazz Quartet, bei einer Fernsehübertragung des Hessischen Rundfunks so überwältigt wurde, dass er damit sein Instrument gefunden hatte? Wo ist der Vier-Schlägel-Virtuose, der nach frühen Studienjahren in Holland am Bostoner Berklee College auf seinen Mentor Gary Burton traf?
Formblöcke und lässiges Glitzern
Was erinnert an seine Verbindungen zur Frankfurter Szene, darunter dem großen Tenorsaxophonisten Heinz Sauer? Wie verträgt sich sein so abstraktionsversessen klingendes Interesse an Modulen, Formblöcken, zeitlichen Rahmungen und Vektoren mit der glitzernden Lässigkeit, die er bei Auftritten mit einem seiner ältesten Freunde, dem Schlagzeuger Wolfgang Haffner, bis in die letzte Reihe ausstrahlt, zuletzt bei einem ausverkauften Konzert in der großen Elbphilharmonie?
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Es ist alles immer da, in gleich welcher Welt er sich bewegt, allerdings mitunter verwandelt. Die Verehrung für das Modern Jazz Quartet kehrt im Ensemble Supermodern wieder, das DLW um den Pianisten Bob Degen erweitert, ohne dass dieser das Spartanische von John Lewis imitieren würde oder Christian Lillinger den Spieluhrenswing von Connie Kay. Gary Burton wiederum lebt am unmittelbarsten im Duo mit der Pianistin Julia Hülsmann fort, die hier die Rolle von Chick Corea übernimmt.
Ein besonders schönes Beispiel für die wechselseitige Durchlässigkeit der Stile ist das auf YouTube dokumentierte Solo, das Dell 2016 während Wolfgang Haffners „Kind of Cool“-Tournee im Kölner Stadtgarten gespielt hat.
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Was zweistimmig, mit elegant swingenden Synkopen beginnt, als wäre Milt Jackson noch einmal auferstanden, zerfasert zusehends und geht über in ein vierstimmiges Getriebe, das alsbald freier und freier dreht. Aus Linie wird Fläche, aus Fläche Skulptur.
Christopher Dell könnte, wenn er wollte, aus dem Stand vermutlich auch das alte Zirkuspferd Lionel Hampton nachahmen. In einer wunderbaren Szene aus Howard Hawks’ 1948 entstandener Musikkomödie „A Song is Born“ animiert Hampton einen klassisch-akademisch verdorbenen Klarinettisten mit dem sprechenden Namen Professor Magenbruch, bei dem alten Fats-Waller-Song „Stealing Apples“ nach bloßem Gehör einzusteigen.
Polymetrische Rangierbahnhöfe
Der Witz besteht darin, dass ein gewisser Benny Goodman den linkischen Professor spielt. Nach einem Moment der Irritation wird Magenbruch vom Hin und Her der Phrasen so fortgerissen, als hätte er nie an einem Notenblatt geklebt.
Was hier als Kompositions-Improvisations-Dilemma inszeniert ist, hat Dell nie geplagt. Schon richtig: Die Grundlagenforschung von DLW an aufs Formelhafte reduzierten metrischen Skeletten hat in ihren rhythmischen und, soweit davon die Rede sein kann, harmonischen Abläufen mit dem, was selbst aufgeschlossene Gemüter als Jazz durchgehen lassen würden, auf Anhieb nicht viel zu tun.
Noch die polymetrischen Rangierbahnhöfe von DRA, die Dell seit einem Vierteljahrhundert mit dem Bassisten Christian Ramond und dem Schlagzeuger Felix Astor betreibt, wirken genreaffiner. Was beide Projekte weit über das Element des Improvisierten hinaus jedoch eint, ist das eminent Körperliche: die Verinnerlichung aller ablaufenden Prozesse, deren Verleiblichung, das Embodiment.
Einzigartige Radikalität
Die einzigartige Radikalität, mit der DLW ein Niemandsland von Jazz und Neuer Musik erobert haben, ist nicht über Nacht gekommen. Sie beruht auf harter Arbeit. Persönlich reichen meine DLW-Erinnerungen bis zu einem Eberswalder Konzert im Jahr 2012 zurück, als der wenig später verstorbene Saxophonist und Flötist John Tchicai noch mit von der Partie war.
Abgesehen davon, dass er allein durch die Stimme seines Instruments die stärkste Präsenz bildete, gewann die Musik ihre Intensität noch daraus, dass sich alle die Bälle zuspielten, gegenseitig Melodiefragmente und Motive aufgriffen und sich, vor allem durch Christopher Dells Comping, hörbar harmonische Ankerpunkte ergaben.
DLW verfährt heute fast durchgehend atonal, und Dell agiert rein rhythmisch. Er selbst beschreibt dies als ein Freistellen harmonischer Strukturen im Rhythmischen. Grafiker und Fotografen verstehen unter Freistellen bekanntlich die Befreiung eines Motivs von seinem Hintergrund. Die Nacktheit, die Dell damit erzielt, eine Nacktheit, die zugleich mit einer Fülle, ja oftmals Überfülle von Klangereignissen koinzidiert, deren Spannweite von explosivem Aktionismus bis zur ruhig atmenden, auch darin aber permanenten Taktwechseln unterliegenden Weite eines Morton Feldman reicht, ist wohl die Voraussetzung, am Vibraphon ausdrücklich als Wahrheitsmaschine und Lügendetektor festzuhalten, um sich von einmal erworbenen Vokabularen immer wieder neu zu lösen.
Jenseits der Schubladen
Der berechtigte Wunsch, Klischees und Schubladen hinter sich zu lassen, ist unglücklicherweise selbst zum Klischee geworden. Er hat fast diktatorische Ausmaße angenommen, während im selben Moment Formatierung und Uniformierung überhandnehmen. Es gibt kaum einen Musiker, der sich im Bewusstsein dieser doppelten Gefahr ernsthafter aus seinen jeweiligen Begrenzungen herauszuwinden versucht – und das auf dem Weg, sich zusätzliche Fesseln anzulegen.
Innerhalb der topologischen Rahmungen, die sich Christopher Dell mit untereinander verstrebten und gegeneinander verschobenen Zeitachsen setzt, stehen Fesselung und Entfesselung in einem dialektischen Verhältnis. Erst das Geregelte bringt das Ungeregelte hervor, erst die Struktur die Freiheit: Das Konzeptuelle, auf das Dell so viel Wert legt, transzendiert sich auf diese Weise als etwas Lebendiges fortwährend selbst.
Die wahre Kunst beginnt deshalb vielleicht, wo alle Geheimnisse ihrer Produktion offen liegen. An diesem Punkt gilt es, von Pierre Boulez umstandslos zu Erik Weisz überleiten, einem ungarischen Juden, der unter dem Namen Harry Houdini weltberühmt wurde. Sein Ausbruchs- und Entfesselungsgeschick bildet bis heute den Maßstab aller vergleichbaren Unternehmungen, und zwar in erster Linie, weil Harry Houdini die Rationalität seines Handelns in den Mittelpunkt stellte.
Gegen esoterischen Zauber
Tatsächlich war er ein erbitterter Gegner allen esoterischen Zaubers und zog 1924 in seinem Buch „A Magician Among Spirits“ gegen Geisterseher, Stühlerücker und Paranormalisten aller Couleur zu Felde, darunter ein ganzes Kapitel lang auch gegen seinen zeitweiligen Freund, den Sherlock-Holmes-Erfinder Sir Arthur Conan Doyle.
Für Harry Houdini war Handwerk die uneingeschränkte Grundlage dessen, womit er sein Publikum verblüffte. In „Handcuff Secrets“, seinem Handschellen-Buch aus dem Jahr 1907, kann man daher sogar eine allererste Einführung in die Geheimnisse des Vibraphonspiels sehen: „Die wichtigste Lektion besteht darin, beide Hände gleichermaßen geschickt einzusetzen, denn – um es mit einem sprichwörtlichen Ausdruck zu sagen – eine Hand wäscht die andere, aber in diesem Fall befreit oder entfesselt eine Hand die andere.“
Schon 1904 erinnerte Houdini indes im Londoner Wochenmagazin „The Sketch“ an seine Schlosserlehre und skizzierte unter dem Titel „Why Be a Prisoner?“ seine Weltanschauung: „Ja, warum ein Gefangener sein? Das will ich wissen, ich sage nicht, geht nicht ins Gefängnis, denn ich nehme an, manche kommen nicht darum herum. Aber warum dort bleiben? Es ist so einfach, wieder rauszukommen, selbst wenn man sich Mühe macht, dir Fesseln um das Handgelenk und Ketten um die Beine zu legen.“
Und er zitiert aus einem Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen englischen Gedicht, „To Althea, From Prison“, von Richard Lovelace: „Stone walls do not a prison make / Nor iron bars a cage“. Es ist nicht schwer, darin auch Christopher Dells unbändig unabhängigen Geist zu entdecken.
Dieser Text ist die Laudatio, die der Autor am 29.10. in Ludwigshafen auf den Preisträger hielt.
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