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Kommunikatives Perpetuum mobile. E-Mails bringen zwischen Sinn, Unsinn und Spam so ziemlich alles hervor.

© Abbildung: Mauritius

Digitale Welt: Flut und Segen: Wie E-Mails unsere Zeit vernichten

Beste Erfindung des Computerzeitalters? Schlimmste Geißel im Büro? Die E-Mail ist beides - und einfach nicht totzukriegen. Eine Theorie der E-Mail ist überfällig.

Es ist zu vermuten, dass die Menschen vor 25, 30 Jahren noch gar nicht gearbeitet haben. Dass sie gar nicht wussten, was Arbeit ist. Was haben die eigentlich gemacht an ihren Schreibtischen, in ihren Büros? Bei Filterkaffee mit den Kollegen geschwatzt? Den klobigen Hörer hochgewuchtet, an der Wählscheibe herumgefuhrwerkt? Auf Schreibmaschinen gelegentlich ein Fax getippt? Unterschriftsmappen mit dem Postwägelchen vom dritten in den fünften Stock fahren lassen?

Arbeit ohne E-Mails ist heute unvorstellbar. Die Tage beginnen und enden mit ihnen. Die Feierabende, Urlaube, Familiensonntage werden von ihnen durchkreuzt. Augen, Ohren und Fingerspitzen sind auf sie konditioniert. Nichts hat das Berufsleben, nichts die Kommunikation tief greifender verändert als diese kleine Nebenerfindung des Internets, die 1984 an der Universität Karlsruhe das erste Mal auf deutschen Boden gelangte. Schon in dieser allerersten Mail, die aus den USA kam und eine Nacht lang unterwegs gewesen war, zeigte sich übrigens der Hang des Mediums zu nerviger Redundanz und schlampiger Rechtschreibung. Der Betreff lautete: „Wilkomen in CSNET!“ Die Nachricht: „Michael, This is your official welcome to CSNET.“

Heute, 30 Jahre später, ist die E-Mail die meistgenutzte Funktion des Internets überhaupt, Tendenz keineswegs abnehmend. Milliardenfach wird sie täglich verschickt. Über 80 Prozent davon sind allerdings Spam. Maschineller Spam, nicht dieser „Ich find das Doc grad nicht mehr, kannste kurz noch mal schicken“-Individualspam. Mindestens ein weiteres Prozent besteht aus Nachrichten, bei denen der angekündigte Anhang fehlt. Zwei Prozent aus ungeduldigen Nachfragen, wo der Anhang bleibt. Drei Prozent sind Reminder von Remindern. Vier Prozent entfallen auf niemals abonnierte Newsletter. Der Rest sind Versuche, sich schriftlich zum Telefonieren zu verabreden.

Eine Theorie der E-Mail ist überfällig. Sie brächte ans Licht, was die meisten Nutzer tagtäglich erleben: Die Kulturtechnik, die lange als modern und arbeitsbeschleunigend galt, wirkt hemmend und zersetzend. E-Mails machen einfache Vorgänge kompliziert und komplizierte noch komplizierter. Wenn sie in Massen auftreten, schaden sie der Konzentration. Sie vernichten nachweislich Zeit, Studien sprechen von bis zu zwei Stunden pro Tag und Mitarbeiter. Im gehobenen Management sind es noch deutlich mehr.

Wir sind selber schuld, meint Anitra Eggler. Die Unternehmensberaterin hat gerade ein bissiges Buch über das Phänomen geschrieben, „E-Mail macht dumm, krank und arm“ heißt es, ist schön groß gedruckt und liest sich unterhaltsam weg. Egglers These: Wir stöhnen zwar, sind aber insgeheim süchtig nach den Unterbrechungen, nach dem Plingpling, nach der Bürde des „Sie haben 456 neue Nachrichten“. Wer viele Mails bekommt, hat einen wichtigen Job – und keine Sinnfragen. Er kommt nie ins Grübeln. Er muss ja schaffe, schaffe, wegsortiere. Dank E-Mails kann man hervorragend Arbeit simulieren. Ich war heute sehr fleißig: Ich habe allen alles weitergeleitet. Und die Chefin immer in CC gesetzt. Dass das leider irgendwie ungut fürs Bruttosozialprodukt und die angestrebte Arbeitskraftoptimierung ist, hat sich herumgesprochen. Unternehmen schauen besorgt auf ihre hektisch tippenden Mitarbeiter. Erwirtschaften die noch oder vergeuden die schon? Und wie kann der grassierenden Schreibwut Einhalt geboten werden, ohne dass man ihnen die Laptops und Smartphones wieder wegnimmt?

Der größte Nachteil der E-Mail ist zugleich ihr größter Vorteil

Kommunikatives Perpetuum mobile. E-Mails bringen zwischen Sinn, Unsinn und Spam so ziemlich alles hervor.
Kommunikatives Perpetuum mobile. E-Mails bringen zwischen Sinn, Unsinn und Spam so ziemlich alles hervor.

© Abbildung: Mauritius

Des einen Sorge ist des anderen Wachstumsmarkt: Längst hat sich eine Horde von Coaches und Consultern in Stellung gebracht. Es gibt Ratgeber, Workshops und Software zur E-Mailreduzierung. Genützt hat es bislang wenig. Dem ausufernden elektronischen Briefverkehr haftet weiterhin nichts Unanständiges an. Und kaum jemand entzieht sich freiwillig. Im Gegenteil: Wer kein Postfach hat, muss ein Greis oder Säugling sein. Wer binnen zwölf Stunden nicht auf Anfragen reagiert, gilt als unhöflich und lahm. Wer berufliche E-Mails nur zweimal täglich zu festen Zeiten abruft, als pedantischer Sonderling. Du Digitalemigrant. Geh doch nach Hause, du Holzmedienhaken, wenn dir die schöne neue Welt zu fast and furious ist.

In unserer Vorstellung ist die E-Mail eine archaische Naturgewalt, der der Starke sich mutig entgegenstemmt, den Schwachen fegt sie hinweg. Metaphern unterstreichen das Bild: Von E-Mailflut und Lawine ist die Rede, Mails prasseln nieder, verbinden sich zu reißenden Informationsströmen. Gewinner wissen die Wellen zu reiten, Verlierer kriegen zum Trost einen Burn-out. Implosion als ultimativer Leistungsnachweis. Das hyperkommunikative Ich, dessen oberstes Glaubensgebot die ständige Erreichbarkeit ist, endet als qualmendes Aschehäufchen. Aber darauf darf man dann ein bisschen stolz sein.

Nur: Was das den Steuerzahler wieder kostet. Die Krankenkassen. Den Wirtschaftsstandort. Nicht in allen Vorstandsetagen will man deshalb warten, bis sich die Belegschaft gegenseitig um den Verstand gemailt hat. Der Autokonzern VW lässt nachts keine Nachrichten mehr auf die Blackberrys seiner Mitarbeiter weiterleiten. Die Telekom ermahnt ihr Führungspersonal zu weniger Mitteilungen außerhalb der Arbeitszeiten. Der IT-Dienstleister Atos will bis Ende 2013 interne Mails komplett abschaffen. Die Kollegen sollen sich stattdessen über eine Art Firmenfacebook austauschen. Mit dem neuen Programm kann man übrigens tolle interaktive Sachen machen, kommentieren und liken und chatten und Events anlegen und Videos posten und sein Profil gestalten. Nur halt keine Briefe mehr schreiben.

Ob andere dem Beispiel folgen werden? Ob das der Todesstoß für den Betreff: dringend!!!! und die Re:Re:Re:Res wird? Trotz spektakulärer Einzelbeispiele deutet nichts darauf hin, dass die E-Mail in Kürze von einer anderen Anwendung abgelöst wird. Nicht einmal, dass sich strengere Konventionen für ihre Benutzung herausbilden werden. Nur fünf am Tag, nie mehr als vier Zeilen, nicht ohne aussagekräftigen Betreff? Absurd. Genauso lächerlich ist die Vorstellung, irgendjemand könnte E-Mails kostenpflichtig machen – nur damit die Menschheit sparsamer mit ihnen umgeht.

Eins kann man getrost voraussagen: Alle Regulierungsversuche werden scheitern. Weil der größte Nachteil der E-Mail zugleich ihr größter Vorteil ist. Er besteht darin, dass sie ein bedeutungsoffener, dezentraler, wenig überwachter Kanal ist. Weder inhaltlich noch stilistisch festgelegt, nicht auf Länge oder Tiefe. Die E-Mail ist, was der Einzelne will, das sie ist. Wurfbriefsendung, Organisationsinstrument, Transportweg, Gedächtnisstütze, soziales Schmiermittel. Sie kann bellend sein oder charmant, hochoffiziell oder halbprivat, integrierend oder intrigant, lächelnd, lobend, augenzwinkernd. Wäre sie morgen abgeschafft, würden wir sie schrecklich vermissen.

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