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Ein Meister in der Physiognomie der Sprache. William Gaddis.

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Finanzkrise: Freakshow der Gierigen

Wo bleibt eigentlich der Roman über den Wahnsinn der Finanzmärkte? Warum William Gaddis’ Romanmonster „JR“ auch 36 Jahre nach seiner Veröffentlichung die Probleme der aktuelle Krise überzeugend spiegelt.

William Gaddis (1922-1998) gehörte zu den Großmeistern der amerikanischen Postmoderne. Sein Roman „JR“, 1975 erschienen, ist ein gut gelauntes Monster von einem Buch, das nun in der gerühmten, noch einmal verbesserten Übersetzung von Marcus Ingendaay und Klaus Modick neu aufgelegt wird. Der Grund liegt auf der Hand: Das Werk ist mit jedem Jahr aktueller geworden.

Wo bleibt, rufen viele, eigentlich der Roman, der den Wahnsinn der Finanzmärkte überzeugend ins Bild setzt? Hier ist er. JR (seine Initialen gleichen nicht zufällig denen John Rockefellers) ist ein kaum dem Kinderzimmer entwachsenes Finanzgenie, ein Mozart der Spekulation. Als seine 6. Klasse einen lehrreichen Ausflug zu einer New Yorker Bank macht, stellt er vertrackte Fragen und deckt sich mit Stapeln von Broschüren ein. Bald darauf beginnt er, aus dem Nichts via Telefon ein Imperium aufzubauen.

Er startet seine Geschäfte mit einem Posten alter Gabeln aus Armeebeständen und bringt dann zahlreiche Firmen unter seine Kontrolle, fusioniert und wickelt ab nach Herzenslust. „Jeder Verlust ein Gewinn“, lautet seine Devise. Wie die Finanzjongleure der letzten Krise definiert er Ramschpapiere und Schulden zu Werten um. Er erweist sich als Virtuose der Leasing-Manöver, Steuervorteile, Verlustvorträge, Abschreibungen, Warentermingeschäfte und Liquidationen, er türmt ein riesiges Finanzunternehmen als Luftnummer auf. In gar nicht so grotesker Überspitzung illustriert der Roman eine Ökonomie, die sich völlig abgekoppelt hat vom realen Leben und Leiden, Arbeiten und Wirtschaften der Menschen. Moralische Bedenken kontert JR ebenso souverän wie infantil: „Ich hab das doch nicht erfunden, so macht man das eben!“

Aber wie schafft er das alles? Indem er nie selbst in Erscheinung tritt. Am Telefon lässt er seine Stimme erwachsener klingen; als Geschäftsführer und Strohmann bei offiziellen Anlässen verpflichtet er seinen Musiklehrer Edward Bast: Der duldsame Mann schuldet ihm noch was. Und bald arbeiten immer mehr kompetente Leute für JR. Am kompetentesten der Autor selbst, der die wahnwitzigen Vorgänge mit geradezu hypertrophem ökonomisch-juristischem Detailwissen beglaubigt.

„Geld“ ist das erste, von einer „raschelnden Stimme“ hervorgebrachte Wort des Romans, Geld ist sein Leitmotiv, das auf verschiedenen Ebenen und in diversen Kontexten durchgespielt wird: Erbschaftsangelegenheiten, Ehestreit, Erziehung – indem der Roman scheinbar nur die O-Töne des laufenden Betriebs protokolliert, wird er zur Parodie des Kapitalismus, zur Freakshow der Gier. Im Internet-Zeitalter, wo mancher jugendliche Schlauberger ruckzuck zum Milliardär wurde, hat „JR“ nur an Plausibilität gewonnen.

Die etwa fünfzig Hauptfiguren sind mehreren Kreisen zugehörig: dem Lehrerkollegium an JRs Schule; einer Gruppe von Künstlern und Bohemiens, die in einem der „Entropie“ überlassenen Apartment in der 96. Straße hausen; schließlich den Juristen und Finanzexperten. Diese Kreise überschneiden sich zunehmend. So ist der Direktor von JRs Schule, die mit didaktischen „Pilotprojekten“ an Geld zu kommen versucht, zugleich der Chef einer Bank und trennt seine Aufgabenbereiche nur ungenügend.

Die mehr als 1000 Seiten des Romans bestehen zum größten Teil aus Gesprächen und Gesprächsfetzen, deren Sprecher nicht ausgewiesen werden. Kein Erzähler nimmt den Leser an die Hand. Man muss sich hineinkämpfen in das Buch, gerät mitten hinein in ein brabbelndes Gewirr der Stimmen, in dem man sich allerdings nach einer Weile erstaunlich gut zurechtfindet.

Denn Gaddis’ Kunst besteht darin, den Figuren markante sprachliche Physiognomien zu geben. JR ist schnell am ständigen „eh“ und seinem Lieblingsfluch „Heilige Scheiße“ zu erkennen; Bast am zaudernden Gestus, der ihn kaum einen Satz zu Ende sprechen lässt. Der pausenlos konferierende und telefonierende Schuldirektor produziert den Sprachschutt eines chronisch überforderten Multitaskers. „JR“ liest sich wie ein monumentales Hörspiel, das alle Grenzen dieses Genres sprengen würde – und gerade deshalb auf einen tollkühnen Hörbuchmacher wartet. Gaddis ist ein Stimmenfänger, ein genialer Parodist der gesprochenen Sprache: wenn etwa seitenlang der Public-Relation-Mann der JR-Gruppe deren vielfältige Aktivitäten preist, dann ist das Kabarett vom Allerfeinsten.

So liest sich der zunächst sperrige Roman je länger, je leichter – bis zum Kollaps des JR-Imperiums. Auch Geschäftsführer Edward Bast erleidet einen psychischen Zusammenbruch und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Dort kann er endlich seinen Komponisten-Träumen nachgehen: Aus seiner Oper, die er schon auf Kantatenformat heruntergestutzt hatte, soll nun ein Cello-Solo werden.

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