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Szene aus der Oper „Elektra“ von Richard Strauss in der Inszenierung von Kirsten Harms an der Deutschen Oper Berlin.

© Bettina Stöß

Freud und Leid des Klassik-Kritikers: Ich will hier raus!

Kritiken müssten eigentlich in der Ich-Form verfasst werden. Denn bereits zwei Menschen, die in einem Konzertsaal nebeneinandersitzen, können völlig konträre Hörerlebnisse haben.

Eine Kolumne von Frederik Hanssen

Stand:

In der vergangenen Woche musste ich die Philharmonie in der Pause verlassen. Eigentlich hatte ich über das Konzert eines sehr bekannten Dirigenten berichten wollen, doch es war mir physisch unmöglich - jede Faser meines Körpers sträubte sich dagegen, auch noch den zweiten Teil anzuhören.

So etwas ist mir noch nie passiert in den 33 Jahren meines Kritiker-Lebens. Ich versuche stets, offen in einen Abend zu gehen, mit Neugier und Aufmerksamkeit, mich von den Künstlern mitnehmen zu lassen auf ihre ganz persönliche Reise durch die Werke. Hier aber versagte alle Professionalität.

Umzingelt von Bewunderern

Noch mehr als die - in meinen Augen - karikaturhafte Gestik und Mimik des Maestro verstörte mich seine Interpretation. Die erschien mir unstrukturiert und ziellos: Dieser Klangkörper hatte überhaupt keine Knochen! Was ich wahrnahm, war nichts als behauptete Emotionalität.

Selten habe ich mich in einer Menschenmenge so allein gefühlt. Denn um mich herum saßen lauter bekennende Bewunderer des Dirigenten, nach dem Schlussakkord brach frenetischer Jubel los.

Die Art, wie wir Musik empfinden, ging es mir durch den Kopf, ist und bleibt radikal subjektiv. Zwei Menschen, die im Saal nebeneinandersitzen, können völlig konträre Hörerlebnisse haben. Warum also sollte sich einer von ihnen das Recht herausnehmen, darüber zu urteilen, ob die Leistung auf der Bühne nun gut oder schlecht war?

Konzertkritiken, davon bin ich seit langem überzeugt, müssten eigentlich in Ich-Form verfasst werden. In Großbritannien und den USA ist das durchaus möglich, in deutschsprachigen Zeitungen dagegen nicht.

Zum Glück – und darum mache ich diesen Job auch nach Jahrzehnten weiterhin gerne – ist das Live-Erlebnis ja offen in beide Richtungen. Wenige Tage vor dem verstörenden Philharmonie-Erlebnis hatte ich in der Deutschen Oper eine Repertoire-Aufführung von Richard Strauss‘ „Elektra“ besucht, aus Pflichtbewusstsein, weil ich die Inszenierung noch nicht kannte.

Und dann wurde ich geradezu weggeblasen von dem fantastischen Sound, den Thomas Söndergard mit dem Orchester entfesselte: präzise, scharf konturiert, durchhörbar selbst noch im wildesten Fortissimo, atmosphärisch dicht, durchpulst von unglaublicher Energie. Das Kritikerleben kann so schön sein.

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