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„Ganz Osteuropa ist ein Fegefeuer“: Musiktheater der Stunde

Tischlerei der Deutschen Oper: Die „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ des ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan gehen unter die Haut.

„Ein bisschen ist das hier schon wie auf der Flucht“, tönt es aus der Zuhörerschaft, die sich vor den geschlossenen Türen der Tischlerei der Deutschen Oper versammelt hat. Der kahle enge Flur, der sich mit wartenden Menschen füllt, erinnert in der Tat an eine Schiffspassage. Das „Fluchtgepäck“, das den jüngeren Leuten als Sitzgelegenheit empfohlen wird – große kofferähnliche Plastiksäcke – passt dazu.

Dabei ist das noch bequem. Wenn das Publikum im Innenraum dicht an dicht sitzt, auf eine unüberwindbare, sich über die ganze Breitseite erstreckende Mauer blickt, die schweren Türen zugefallen sind und das Halbdunkel von einem unterschwelligen Dröhnen und Surren erfüllt ist, dann wird es ernst.

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Nun gibt es kein Entrinnen mehr. Nicht vor Bernhard Ganders fordernder, bohrender, in tiefen Sequenzen bedrohlicher Musik und erst recht nicht vor Serhij Zhadans eindringlichen, alle Ruhe und Sicherheit erschütternden Worten.

Als Auftragswerk der Münchener Musikbiennale erlebten die „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ am 7. Mai ihre Uraufführung und haben nun in Kooperation mit der Deutschen Oper in Berlin Premiere.

Was in seiner Entstehung etwa zwei Jahre Vorlauf hatte, bezog sich zunächst auf Kriege, Flucht und Entwurzelung auf aller Welt – und die Gleichgültigkeit, Ablehnung oder Hilflosigkeit des satten Westens. Unversehens rücken sie uns mit dem „plötzlich“ mitten in Europa stattfindenden Krieg auf den Leib, gehen unter die Haut.

Stationen der Flucht, des Abgewiesen-Werdens

Serhij Zhadan, im Gebiet Luhansk geborener, in Charkiw lebender Schriftsteller, Punkmusiker und Polit-Aktivist, zeigt in seinem ersten Musiktheater-Libretto Stationen der Flucht, des Wartens, des Abgewiesen-Werdens, der Verzweiflung und der Hoffnung.

Vor der Mauer (Bühne: Theun Mosk) befindet sich der Passkontrollbereich eines osteuropäischen Grenzübergangs. Eine Schlange von Menschen aus dem Osten steht einer Gruppe von Beobachtenden auf der westlichen Seite gegenüber. Noch empfängt man die Fremden, „als müssten wir nicht morgen den Blick abwenden und unsere Offenheit bereuen“.

Schlangen von Menschen: Wie werden sie empfangen?
Schlangen von Menschen: Wie werden sie empfangen?

© Eike Walkenhorst

Regisseurin Alize Zandwijk konkretisiert das, indem sie links einen Sektempfang (auf der Titanic?) stattfinden lässt, dem ein Haufen von Rettungswesten, eine Mülltonne, eine grell flackernde Straßenlaterne schon bedrohlich nahe gelagert ist.

[Tischlerei der Deutschen Oper, weitere Aufführungen: 24., 25., 26. Mai, 20 Uhr.]

Vor einem Autowrack rechts postiert sich das von Elda Laro geleitete Ensemble Modern mit Violine, Kontrabass, zwei Klavieren, Schlagzeug und Bassklarinette. Dort schälen sich Flüchtende aus gestaltlosen Plastikkokons (Kostüme: Anne Sophie Domenz): „Ganz Osteuropa ist ein Fegefeuer“.

Mit den Sekt Trinkenden bilden sie einen siebenstimmigen Chor, in dem sich die Seiten vertauschen und auflösen: „Die Menschen, die heute in Sicherheit leben, können morgen auf der Straße landen“, sagt die Regisseurin dazu.

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Unsicherheit überall: in einer Gefängniszelle treffen sich ein Mann im Businessanzug (Carl Rumstadt) und ein Mann in Militärkleidung (Andrew Robert Munn). Der Spekulant hat sein Land ausgebeutet, der Soldat für die vermeintlich gute Sache Menschen getötet.

Auch ihre Positionen nähern sich an: ihnen droht das gleiche Schicksal der Abschiebung und Verurteilung. Zwischen ihnen eine Frau (Antonia Ahyoung Kim), der nur noch ihr Kind geblieben ist, die bei den Saturierten nicht betteln darf, bis sie aufschreit: „Tilgt mich aus diesem Land“.

Eine Frau hat ihren Auftritt, der nur noch ihr Kind geblieben ist: „Tilgt mich aus diesem Land!"
Eine Frau hat ihren Auftritt, der nur noch ihr Kind geblieben ist: „Tilgt mich aus diesem Land!"

© Eike Walkenhorst

Hier ist niemand mehr zu Hause, geht in ein Nirgendwo. Schauspielerin Nadine Geyersbach prangert angesichts dieses Leids die Verlogenheit des Westens an – vielleicht die einzige etwas plakativ anmutende Passage.

Aller moralisierenden Emotion arbeitet Gander entgegen, indem er den sprachgewaltigen Text zerpflückt, den Stimmen ein akzentverschiebendes Dauerstaccato abverlangt, Gesang auf Hochtouren, Schreien gleich. Dazwischen selten Lyrisches, Harmonisches sogar, Melodiefetzen.

In den elektronisch verzerrten, in Techno- und Heavy Metal-Manier hämmernden Instrumentalklängen klingt plötzlich Beethovens Mondschein-Sonate auf, ebenso nostalgisch wie hoffnungsvoll berührend.

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