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Ikone der Schlafmützen. Das Faultier verbringt viel Zeit damit, Pause zu machen.

© dpa/picture-alliance

Gedanken über den Schlaf: Einfach mal Pause machen

Der Mensch braucht Pausen – und den Schlaf als die wichtigste Unterbrechung im Alltag. Die Karwoche erinnert daran, dass auch Erlösung ihre Zeit braucht. Ihre Auszeit.

Alles zu seiner Zeit. Nicht irgendwann und irgendwie und schon gar nicht immer. So steht es in der Bibel – eine stimmige Grundlektüre zur Fastenzeit. Die heilsame Balance zwischen Wachsein und Ruhen, sprich: die Bedeutung der Pause war unseren Vorvätern offenbar klar. In den Tagen vor Ostern wird daran gern erinnert. Bereits das Fasten ist ja ein Pausemachen vom Gewohnten, vom Eingefleischten. An Gründonnerstag und Karfreitag schweigen die Glocken der katholischen Kirchen, die Orgel verstummt, die Ministranten legen ihre Schellen beiseite. Mancherorts ziehen sie bis heute mit Holzklappern durch die Straße, um anstelle des Glockengeläuts zum Kirchgang zu rufen. Die Glocken machen mal Pause, sie fliegen nach Rom, heißt es.

Ostern, das bedeutet eine existenzielle Zäsur. Sterben und Auferstehen. Schlafen und Erwachen. Der Messias ruht im Grab, die Erlösung der Menschheit kann warten – so erzählen es die Evangelisten.

Die moderne Gesellschaft hat diesen Rhythmus verlernt. Sie ist aus dem Takt geraten, wie die Jahr für Jahr neu publizierten Daten zum Thema Schlafgesundheit verraten. Immer neue Studien versuchen, den Ursachen für die Verschlechterung der Nachtruhe auf den Grund zu gehen. Mach mal Pause? Schöner Spruch, aber in unserer auf Arbeit und Ertrag gegründeten Kultur sind Pausen und Schlafen nicht als schützenswert vorgesehen. Wir drohen zu Sklaven im Zeitgeist des 24/7-Immerwach-Wahnsinns zu werden. Dabei sollten wir lernen, auf die Pausenzeichen der Natur zu hören.

Nichts bringt uns besser voran als eine Pause

Gerade der Schlaf wird uns zu Beginn des Lebens in die Wiege gelegt, wir lernen, ihn nach unseren inneren Uhren zu gestalten, und er begleitet uns, bis wir eines Tages hoffentlich sanft entschlafen. In den Jahren dazwischen und gerade in schwierigen Lebensetappen erleben wir den Schlaf als heilsam und kostbar. Meistens nehmen wir ihn jedoch als recht alltäglich hin. Rastlosen Leistungsmenschen gilt er allenfalls als notwendig, schlimmstenfalls als Zeitverschwendung. Wie die Pause.

Nichts bringt uns besser voran als eine Pause, eine Unterbrechung – ein wunderschöner Gedanke der englischen Dichterin Elisabeth Barrett-Browning. In der Schulzeit wird das noch beherzigt, bis heute ist der Schulhof geradezu eine Manifestation des Rechts auf Unterbrechung. Die große Pause, die Fünf-Minuten-Pause, eine Zeit des Wechsels, des Austauschs. Der Pausenhof ist der Ort, an dem außerhalb des geregelten Unterrichts Koexistenz ausprobiert wird, soziale Beziehung in einem zwar geschützten, aber öffentlichen Raum.

Hierzulande stehen vielen Arbeitnehmern 25 oder 30 Tage Urlaub im Jahr zu, in den USA sind zwei Wochen die Regel. Wer schuften muss, wer mehrere Jobs hat, um über die Runden zu kommen, der erlebt schon ein verlängertes Wochenende als Luxus. Und alle sehnen sich nach Auszeit: „Ich bin dann mal weg“ – schon der Titel dürfte mit dazu geführt haben, dass Hape Kerkelings Buch seinerzeit über 100 Wochen auf der Bestsellerliste stand.

Aber die wichtigste regelmäßige Pause, die Auszeit, auf die buchstäblich keiner verzichten kann, das ist der Schlaf.

Was wäre die Musik ohne die Pause?

Schlaf ist gerecht, denn jeder braucht ihn. Schlaf ist unsichtbar, dennoch ist er ebenso robust wie fragil. Schlaf und die Auszeit haben nur einen Preis: Zeit. Viele können sie sich nicht kaufen. Mancher verliert den Schlaf und versucht ihn wiederzufinden mit aller Gewalt. Oft lernt man erst dann, wenn man ihn verloren hat, seine Kraft tatsächlich zu schätzen. Schlafen wir, um uns zu regenerieren oder schlafen wir, um Energie zu sparen? Die gleiche Frage stellt sich für den kurzen Moment der Absence bei der Arbeit. Man starrt gedankenverloren an die Wand, holt Kaffee, macht ’ne Zigarettenpause. Lenkt das nur ab, macht es unproduktiv, oder sorgt es für neuen Schwung?

Schlafen wir, um das Unwichtige vom Tag über Nacht zu vergessen oder um die emotionale Bewegung des wachen Bewusstseins unterbewusst zu rebalancieren? Schlafen wir, um uns an uns selbst zu erinnern, wenn wir uns morgens wiederfinden? Schlafen wir, um Neues zu lernen, um unser Gedächtnis zu aktivieren, um Erinnerungsressourcen zu konsolidieren? Bestimmt geschieht Ähnliches, wenn wir Urlaub machen oder in die Pause gehen.

Was den Schlaf betrifft, ist die Wissenschaft sich in einem wesentlichen Punkt einig. Schlaf ist in höchstem Maße individuell und wird zum signifikanten Teil unserer Persönlichkeit, er ist prägend auch für unseren Charakter, für das Selbst, zu dem wir im Laufe des Lebens werden.

Es ist wie in der Musik. Was wäre sie ohne die Pause, ohne die Stille, die stillgestellte Zeit, sie ist der Musik wesentlich. Das Aufschieben, Verstummen, Nachschwingen gibt dem Klang erst Raum. Der Schlaf ist die Generalpause des täglichen Lebens.

Der Schlaf ist eines der größten Rätsel der Welt

Ikone der Schlafmützen. Das Faultier verbringt viel Zeit damit, Pause zu machen.
Ikone der Schlafmützen. Das Faultier verbringt viel Zeit damit, Pause zu machen.

© dpa/picture-alliance

Die Zeit, die wir in Morpheus’ Reich verbringen, hat noch jede Epoche auf ihre Weise erklärt. In der griechischen Antike übergab man einem Gott – Hypnos, Sohn von Nyx und Zwillingsbruder von Thanatos – die abendliche Aufgabe, als „Allbezwinger“ die Menschen in den Schlaf zu schicken. Man baute ihm heilige Stätten. Die Betten standen unter Bäumen, um dort geschützt von Priestern und segnenden Worten den Schlaf zu pflegen. Schon vor der Erkenntnis des geophysikalischen Sachverhaltes, dass wir auf einem sich drehenden Planeten leben, wussten die Menschen: Wenn es dunkel wird, übermannt uns die Müdigkeit, wenn der Tag anbricht, wachen wir auf. Bloß auf die Fragen, warum wir schlafen und wer wir nachts sind, fand sich keine befriedigende Antwort.

Als der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes im 17. Jahrhundert an der Schwelle zur Aufklärung über die Rolle der Vernunft nachdachte, räumte er dem Thema im Rahmen seines Modells von der „menschlichen Maschine“ enorme Bedeutung ein. Descartes schlief auch selbst sehr gern und pflegte das bekömmliche Mittagsschläfchen.

Auch Goethe und Einstein verbrachten ihr Leben im Rhythmus von Gerneschläfern. Beide waren Genies ihrer Epoche und hätten auf das Nichtstun als Kreativität spendende Zeit nie verzichten wollen. Dem Dichter wie dem Erfinder der Relativitätstheorie galt der Schlaf als produktive Stärkung, beide schätzten ihn als Inspirationsquelle. Sie hätten ihn niemals als Zeitverschwendung angesehen.

Boom der Sleep-Apps, die den Schlaf vermessen

Auch der Naturforscher Charles Darwin nahm Tag für Tag wohlbemessene Auszeiten für Schlaf und Ruhe. Von ihm sind höchst intensive Arbeitsphasen von drei mal anderthalb Stunden am Tag überliefert. Den Rest widmete er der Natur, dem Spaziergang, dem Essen mit Freunden, dem Nachdenken, der Familie. Viele Künstlerbiografien müssten umgeschrieben werden, wollte man die Bedeutung des Schlafes beim Entstehen ihrer Werke bedenken.

Die Muse küsst nicht unbedingt nachts. Viel zu häufig wird bis heute zudem der Vorstellung gehuldigt, dass eine Schlafmütze faul sei. Eher bewundert man, wenn nach einer durchwachten Nacht – von welchen Stimulanzien auch immer beflügelt – die Lösung im Morgengrauen kommt, man denke nur an Tarifkonflikte und Koalitionsverhandlungen. Gerade bei Künstlern wird Nachtarbeit gerne als Voraussetzung für Genialität angesehen. Aber wann bitte hätten sie von ihrer Kunst träumen können? Der Schlaf der Vernunft gebiert nicht nur Ungeheuer.

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts werden die vom Menschen verschlafenen Stunden systematisch erkundet, in Schlaflaboren und Forschungszentren. Von Jahr zu Jahr mehrt sich das Wissen über diesen komplexen Zustand: So ist der menschliche Schlafquotient einerseits theoretisch so hoch wie nie, andererseits kommen Großstädter kaum je zur Ruhe.

Gleichzeitig sorgt die aktuelle Optimierungssucht auch für einen Boom in Sachen Schlafvermessung. Immer neue Sleep-Apps kommen auf den Markt: besser gut getrackt als gar nicht geschlafen. Immer öfter vermisst der digital getriggerte Mensch seinen Schlaf, checkt allmorgendlich die grafische Auswertung der vergangenen Nacht und trägt dessen Protokoll pausenlos am Handgelenk. Aber bei diesen rein binär-codierten Schlafechos handelt es sich letzlich nur um grobe Annäherungen, die im schlimmsten Fall zu einer neuen Schlafproblematik führen können, der sogenannten Orthosomnie. Ein Krankheitsbild, das jenen Effekt meint, wenn man als smarter Zeitgenosse beim Thema Nachtruhe alles richtig machen will und vor lauter Verunsicherung erst recht nicht mehr schlafen kann.

Jede Nacht ist anders

Mach mal Pause, aber mach bloß nichts falsch: Das Sleep-Tracking droht aus dem Schlaf, der letzten leistungsfreien Zone, eine Art nächtlichen Leistungssport zu machen. Mit solcher Software wird die Balance zwischen On- und Off-Modus des Menschen nicht ausgeglichener als mithilfe des Tassen-Symbols als Pausenanzeige im Cockpit des Autos. Wir bleiben nur im Takt, wenn wir aus dem Takt geraten, dösen, dämmern, tag- und nachtträumen dürfen, Zeit zubringen ohne offenkundigen Sinn und Zweck.

Der Schlaf, diese größte, intensivste und regelmäßigste Pause, ist eines der letzten großen Rätsel der Welt. Jede Nacht reagiert er sensibel auf das Tagesgeschehen, jede Nacht ist er anders. Und niemand kann sich der komplementären Dialektik entziehen, dass wir zwei Drittel unserer Lebenszeit nur deshalb wach sein können, weil wir ein Drittel bei geschlossenen Augen erleben.

William Shakespeare ließ Macbeth resümieren: „Schlaf, der die Stirne des Kummers entrunzelt, die Geburt von jedes folgenden Tages Leben ... Balsam verwundeter Gemüter, die heilsamste Erquickung der Natur und die nahrhafteste Speise im Gastmahl des Lebens.“ Schließ’ die Augen, und sei es am Tag: Ich bin jetzt mal kurz weg.

Die Autorin leitet seit 2011 zusammen mit Sandra Zimmermann das Expertennetzwerk Schlafakademie Berlin. Soeben ist Thea Herolds Buch „Du hast Zeit – Eine Liebeserklärung an die Pause“ erschienen (Siebenhaar-Verlag, 128 S., 18 €).

Thea Herold

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