Kultur: Gott steckt im Detail
Jeder Gegenstand erzählt seine Geschichte: ein Besuch im Museum der unerhörten Dinge
Stand:
Im Schaufenster des Museums gibt es nur ein kleines Foto. Es zeigt den vor kurzem verstorbenen französischen Philosophen Jean Baudrillard. Auf dem Bild ist sein Haar schon grau und in der Stirn ausgedünnt, aber sein Blick ist ungebrochen. Der Mann, der vor dem Schaufenster steht und den Bürgersteig fegt, sieht aus wie Baudrillard auf dem Bild. Man hat ihm das gelegentlich schon gesagt, auch wenn er erst Mitte fünfzig ist und das Haar noch dichter trägt. Er heißt Roland Albrecht und ist der Hausmeister des Museums. „Der Direktor bin ich auch“, sagt er und lacht verschmitzt. „So, wie es mir gerade passt: mal Proletarier, mal Herrscher.“ Auch seine Worte erinnern an Baudrillard. Nicht Sinn stiften, sondern Grenzen verwischen. Albrecht ist auch Kurator und Künstler – er ist das Museum.
Das Museum der unerhörten Dinge befindet sich in einem ehemaligen Hauseingang in Schöneberg. Ein schmaler Raum, kaum drei Meter breit und fünf, sechs Meter tief. Vor Jahren wurde das Haus in zwei Häuser unterteilt. Jedes bekam einen eigenen Eingang, der Haupteingang wurde überflüssig. Ein Fahrradgeschäft benutzte ihn als Lager. Im Jahr 2000 bot der Fahrradhändler den Raum für eine temporäre Ausstellung an. Albrecht zog ein und blieb. Weil das Museum sich zwischen zwei Häusern befindet, gibt er als Anschrift an: Crellestraße 5/6. Das ist postalisch zwar nicht ganz richtig. Aber es ist Programm. Das Museum für unerhörte Dinge besetzt einen Zwischenraum. Den Raum zwischen Realität und Fiktion.
In den siebziger Jahren verließ Albrecht seine schwäbische Heimat Memmingen, weil es dort zu eng war für jemanden, der sich für Dada und Fluxus interessierte. Er ging nach Berlin, um Künstler zu werden. Geworden ist er ein Geschichtenerzähler mit Anschauungsraum. Das Zahnrad aus einer alten Schreibmaschine, ein Bindfaden oder eine Flasche Wein – seine Ausstellungstücke sind Alltagsgegenstände, die eins gemein haben: Die Geschichte um sie herum ist weit größer als sie selbst. Das Museumsdepot, wo etwa 300 solcher Gegenstände lagern, sieht daher wie ein Trödelladen aus. Man kann sich an Marcel Duchamp erinnert fühlen, an die Idee des Readymade, dass jeder Gegenstand nur durch die Präsentation zu Kunst werde.
Albrecht gestaltet die Dinge nicht, er sucht auch nicht nach ihnen. Er wartet, bis ihn etwas anspricht und ihm seine Geschichte erzählt. Auch das ist natürlich eine Geschichte – seine liebste vermutlich. Manche der ausgestellten Stücke sind absurd: der rote Faden, der durchs Leben läuft, oder der Einschlag eines Gedankenblitzes auf einem Stück Papier. Andere äußerst unwahrscheinlich: das Fell von einem japanischen Bonsai-Hirsch oder eine Plastikfigur des rot-weiß gestreiften Husumer Protestschweins. Als es den in Nordfriesland lebenden Dänen verboten wurde, ihre Flagge zu hissen, so erzählt der Ausstellungstext dazu, züchteten sie ein Schwein in ihren Landesfarben.
Albrechts Geschichten leben davon, dass sie den Schein von Wahrheit erzeugen. Die Ausstellungstexte haben einen wissenschaftlichen Duktus und ordentliche Bibliografien (Smith, Henry J.: On Shrunken Heads and Shrunken Animals. New York 1947). Auch die reale Präsenz eines Gegenstandes wirkt manchmal Wunder, und beim Anblick eines lichtblauen Kristalls überlegt man zweimal, ob Eis wirklich nicht versteinern kann. Komischerweise sind es gerade die unglaubwürdigsten Geschichten, die am Ende wahr sind, wie die Sache mit dem Husumer Protestschwein.
Zu den Dingen selbst, forderten die Philosophen aller Zeiten und glaubten, damit der Wahrheit näherzukommen. „Die Dinge lügen“, antwortet Albrecht. „Jedenfalls täuschen sie uns.“ Dann lacht er wieder: „Aber wir wollen ja auch getäuscht werden.“ Als Katholik ist er empfänglich für Legenden, für das ganze Reich der Reliquien. Wie der Holzsplitter zum Kreuz, so kommen die Dinge zu ihren Geschichten. Schließlich lässt sich alles durch eine Erzählung in den großen Weltenlauf einklinken. Baudrillard klagte die Produktion von Illusion an, Roland Albrecht stellt sie aus – in aller Ambivalenz.
Unverstanden fühlt er sich nur, wenn man ihm glaubt. In einem seiner Ausstellungstexte, die 2005 in einem schönen Buch im Wagenbach-Verlag erschienen sind, behauptet er, dass die englische Firma „Gerba“ 1794 den Gartenzwerg erfunden hat. Nun verlangt ein thüringischer Gartenzwergforscher Beweise. Und von einer österreichischen Museologin wurde er nach Wien eingeladen, wo er das pädagogisches Konzept seines Museums vorstellen sollte. Zwar kokettiert Albrecht gerne mit seinem Posten und nennt sich Direktor, wo er nur kann – aber um den Kunstbetrieb zu parodieren. Wenn jemand die Parodie fürs Original hält, ist die Pädagogik am Ende.
Seltsamerweise, sagt er, mögen ihn die Museumsleute trotzdem lieber als die Künstler. Er ist ordentliches Mitglied im Museenverband, nimmt Teil an der langen Nacht der Museen. Und mit Mitteln des Kiezfonds wird er ab November nun doch einmal die Dinge selbst zu Wort kommen lassen und selbst schweigen: Zu hören gibt es dann Vertonungen etwa von der letzten Stunde des Bahnhofs Zoo, bevor er zum Regionalbahnhof wurde, von der Stille am Grab der Gebrüder Grimm oder von den Nachtigallen an der Langenscheidtbrücke. Aber ob die Nachtigallen wirklich Nachtigallen sind und nicht Amseln, das kann er auch nicht sagen.
Museum der unerhörten Dinge, Crellestr. 5/6, Mi bis Fr, 15 bis 19 Uhr.
Jean-Michel Berg
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: