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„Alles ist Original“: Schriftzug von Erik Göngrich auf Dach einer Laube.

© Christof Zwiener

Ausstellung "Berlin-Britzenale": Große Kunst in kleinen Gärten

Ideen für die Idylle: Die Neuköllner Schrebergartenkolonie Morgentau veranstaltet die dritte „Berlin Britzenale“.

Hinter den Bäumen des Akazienwäldchens an der Blaschkoallee leuchten kräftig rot und blau die Fassaden der Hufeisensiedlung, gegenüber auf der anderen Straßenseite schillern silbrige Luftballons und Brautschleier. Im Britzer Standesamt geben sich die Brautpaare die Klinke in die Hand. Während davor in der Grünanlage ein Lastenfahrrad zu einer Sektbar umdekoriert wird, wartet an der nächsten Straßenecke eine schwarze Luxuslimousine aus den Fünfzigern auf die Frischvermählten. Vor einer filmreifen Kulisse: Über einem rot-weiß gestreiften fensterlosen Erdgeschoss türmen sich Dutzende mythologischer Figürchen in Bonbonfarben. Ein Hindutempel mitten in Britz! Hinter dieser optischen Sensation liegt die Kleingartenkolonie Morgentau, die ab Freitag zu einer Open-Air- Kunstschau einlädt.

Fahne als Farbkomposition in Blau-Weiß

Am Fahnenmast des Vereinsheim wird dann ein Kunstwerk groß wie ein Bettlaken aufgezogen, eine geometrische Farbkomposition in Blau-Weiß von Raul Walch. Nicht zum ersten Mal: Eine Berlin Britzenale fand schon 2016 und 2018 im Morgentau statt. Wie es dazu kam, erzählt Kurator Christof Zwiener: Vor sechs Jahren ergatterte er hier eine Parzelle. Zur Einweihung lud er befreundete Künstler ein, sich darauf zu betätigen. Die Britzenale war geboren. Zwei Jahre später stellte der Laubenpieperverein den Versammlungsplatz am Vereinsheim für Kunstinstallationen und Performances zur Verfügung. Frau Stretzke, die erste Vorsitzende des Vereins, findet es großartig, dass jüngere Leute mit neuen Ideen die Idylle aufmischen.

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Für die dritte Britzenale haben nun etliche Parzelleneigentümer ihre Refugien zur Verfügung gestellt. „Diesmal laden wir zum Flanieren ein“, freut sich Christof Zwiener. Die Berlin Britzenale befindet sich also auf Expansionskurs, und dank einer Förderung durch die Senatskulturverwaltung zahlt sie sogar Ausstellungshonorare. Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler hatten die Aufgabe, sich um eine möglichst ortsspezifische Präsentation ihrer Kunst zu bemühen.

Turm von Babylon

So gräbt sich auf einer verwaisten Parzelle das Künstlerkollektiv Art Ashram seit zwei Wochen durch den lehmhaltigen Boden und errichtet daraus – ja was? Ein „Vergnügungspark“ soll es werden, streng nachhaltig und CO2-neutral. Das Publikum darf am Wochenende gerne mit Hand anlegen. Oder sich komfortabler im benachbarten „Pleasure Garden“ der Künstlergruppe „Stay Hungry“ verwöhnen lassen. Zwischen Upcycling-Skulpturen kann man sich hier auf eine Matte legen und Götterspeise in fünf verschiedenen Farben servieren lassen. Er habe in seinem Garten schon als Kleinkind gespielt, erzählt der 75-jährige Pächter Joachim Schwarz. Auf eine pyramidenartige Skulptur, die ihm die jungen Leute in den Garten gestellt haben, reagiert er mit einem „Turm von Babylon“ aus blinkenden Lichtern, den er in seiner verwunschenen Laube zwischen Bildern, Büchern und Skulpturen installiert hat.

„Alles ist Original“: Diesen Schriftzug hat Erik Göngrich auf das Dach einer Laube in einem wildwüchsigen Garten montiert. Ein ironischer Kommentar zu der Sehnsucht nach etwas Eigenem, dem Kitsch und dem Ordnungswahn in vielen Kleingärten. An den Maschendrahtzaun zwischen zwei Parzellen hat das Künstlerduo Pätzug/Hertweck zwei Schiedsrichterhochsitze vom nahen Tennisplatz gestellt: Ein Fingerzeig auf die oftmals konfliktreichen Nachbarschaftsverhältnisse. Unter einem Kirschbaum hängt ein Bildschirm mit einer Videoarbeit von Pola Sieverding. Sie kombiniert assoziativ Bilder aus der Orthopädie, Bondage und dem Zurichten von Pflanzen in Schrebergärten. Die russische Künstlerin Stefania Smolkina zeigt in ihrem Video Aufnahmen vom Papst, von der Kanzlerin und Despoten wie Putin beim Bäumepflanzen. Im Russischen kann das Verb „pflanzen“ auch bedeuten, jemanden in eine Position zu bringen – oder zu inhaftieren.

Fallschirmseide für Brautkleider

In der Nähe des Vereinsheims wurzelt seit dem Frühjahr ein Maulbeerbaum aus Kreta. Deborah Jeromin, die ihn gepflanzt hat, beschäftigt sich mit der Seidenraupenzucht in Schrebergärten während der NS-Zeit. An Seidenfallschirmen landeten 1941 tausende deutscher Soldaten auf Kreta, das Material wurde dort später für Taschentücher und Brautkleider wiederverwendet. Während der Britzenale zeigt die Künstlerin einen Dokumentarfilm zu diesem Thema und liest aus ihrem Buch „Fallschirmseide“.

[Kleingartenkolonie Morgentau e. V., Blaschkoallee 52, 6. bis 8. August, Eintritt frei. Weitere Infos und Programm unter www.berlin-britzenale.de]

Ein silbriges Vogelhäuschen, von Bogomir Ecker an einen Telefonmast gehängt, erinnert mit seinen runden Öffnungen an einen Lautsprecher. Die Skulptur ist extra für die Britzenale entstanden. Ein ornamentaler Streifen aus weißen Gardinen zieht sich neben einer Parzelle entlang. Sehr luftig, sehr poetisch. Was mag diese Installation bedeuten? Aha, das ist gar kein Kunstwerk, sondern nur eine Schutzmaßnahme, damit die Rasenaussaat nicht gleich zertrampelt wird. Offenbar zeigt die Kunst in der Kleingartenkolonie Wirkung. Je länger man in ihr lustwandelt, desto mehr wirkt sie wie ein kollektives Kunstwerk. Pedanterie oder Lässigkeit in der Gartengestaltung, Kitschfiguren und der Bauzustand einzelner Lauben, all das hat ja eine Bedeutung. Man kann so eine Kolonie lesen wie eine Collage, mit oder ohne Britzenale.

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