
© Shannon Marks / XL Recordings
Harte Zeiten für Ordnungsfanatiker: Das neue Album von Makaya McCraven
Für seine letzte Platte hat er sieben Jahre lang die Musik der Afrodiaspora erforscht. 2022 erhielt Makaya McCraven dafür den Grammy. Kann der Nachfolger das Level halten?
Stand:
Veröffentlichungen neuer Alben von Makaya McCraven dürften harte Zeiten für die Angestellten von Streamingdiensten bedeuten, wo doch alles schön nach Schubladen sortiert wird: Studioalben kommen zu den Studioalben, Live-Platten zu den Live-Platten. Und EPs kommen mit anderen EPs in die EP-Sammlung. Dass bloß nichts durcheinanderkommt!
Wenn also einer wie McCraven mit einem Doppelalbum – zwei CDs oder zwei LPS, im Stream 20 Tracks – ankommt, das durchweg aus Mitschnitten von Livekonzerten besteht, die aber anschließend im Studio zerschnitten, neu zusammengesetzt und um neue Stimmen erweitert wurden, und wenn dieses Album auch noch als eine Sammel-Veröffentlichung vierer zum Monatsende erscheinender Einzel-EPs aufgemacht wird, die auf dem Album vollumfänglich mitpubliziert werden, ja, wohin gehört das Ganze denn dann?

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Zum Glück müssen wir solche Fragen an dieser Stelle nicht klären. Interessant ist das dennoch, weil sich in McCravens entspannter Ignoranz der gängigen Ordnungs- und Vermarktungsmaximen in gewisser Weise auch sein anarchischer Jazzbegriff widerspiegelt. Jazz, so McCraven in etwa, soll Ausdruck von offenen gemeinschaftlichen Prozessen sein – echte Menschen im selben Raum statt digitaler Virtualität.
Stücke ohne Anfang und Ende
Auf „Off The Record“ findet sich entsprechend kein einziger Jazzstandard à la „All The Things You Are“ – und, obwohl den einzelnen Tracks durchaus Titel zugeordnet sind, sind es im strengen Sinne noch nicht einmal Songs.

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Stattdessen besteht das Doppelalbum streckenweise aus fließend ineinander übergehenden Nummern, sowie aus Ausschnitten längerer Live-Improvisationen aus verschiedenen Jahren und in wechselnden Besetzungen, die klar erkennbar mittendrin anfangen und zum Ende hin lediglich ausgeblendet werden, ohne dass die Musiker zum Schlussakkord kämen.
Man ist also live dabei, bezeugt die Entstehung musikalischer Ideen aus dem Nichts, verfolgt ihre Entwicklung nach – und fühlt sich dabei, da die Basis ja einem Live-Konzert entstammt, irgendwie auch als Teil eines Publikums, das diese Musik mit vorwärtstreibenden Grooves und großen Spannungsbögen antreibt.
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Sieben Jahre lang hatte sich der 1983 in Paris geborene McCraven zur Arbeit am Vorgängeralbum, „In These Times“, nicht nur mit so ziemlich jeder Spielart des Jazz, sondern der afrodiasporischen Musik überhaupt auseinandergesetzt. 2022 erhielt er dafür den Grammy. Dieses Wissen ist auch „Off The Record“ anzuhören.
Einzigartige Stil-Melange
Nicht immer stehen die Stile dabei derart eindeutig im Vordergrund wie etwa der Hip-Hop im Stück „Boom Bapped“. Zumeist verschmelzen sie stattdessen zu einem neuen Ganzen, das, im Gegensatz zum eher kammermusikalisch tönenden „In These Times“, nun viel stärker nach der schweren Luft nachmitternächtlicher Gigs in verschiedenen Städten der Welt klingt – auch wenn die meisten Mitschnitte hier zu weit bürgerfreundlicheren Zeiten entstanden sein dürften.

© Shannon Marks / XL Recordings
So enthalten die Tracks der EP „Techno Logic“ Livemitschnitte mit dem Ausnahme-Kornettisten Ben LaMar Gay und dem Sons-of-Kemet-Tubisten Theon Cross aus Clubs in London, Berlin und New York. Die „The People’s Mixtape“ EP speist sich aus einer Liveaufnahme im New Yorker Club „Public Record“ im Januar 2025, „Hidden Out!“ aus einem Mitschnitt vom Juni 2017 im Chicagoer „Hideout“. Und „Pop Up Shop“ schließlich bedient sich an einer schon zehn Jahre alten Aufnahme aus dem Del Monte Speakeasy in Los Angeles – das Alter merkt man ihr im Übrigen nicht an.
Damit führt „Off The Record“ nicht nur durch verschiedene Schaffensphasen und Besetzungen, sondern vor allem durch vier sehr unterschiedliche Klangwelten zwischen Fusion, Hip-Hop und von Synthesizern gesättigtem, krautrockigem Elektro-Beat-Soundscape.
Echt, nicht authentisch
Hier und da ist auf „Off The Record“ das Publikum zu hören, dann Verspieler, wie die des Avant-Gitarristen Jeff Parker, die auf seinem Instrument im Solobetrieb eben besonders gnadenlos in den Vordergrund rücken, während ein unkontrolliert in die Oktave ausbrechendes Saxofon im Kontext freier Improvisation so gut wie immer wie ein beabsichtigtes Stilmittel anmutet.
Die Fehler machen die Musik per se weder schlechter noch besser. Sie schaffen aber Intimität, Nahbarkeit, eine Form der Verletzlichkeit, die man in hochglanzpolierten Produktionen höchstens in Form von theatral inszenierten Lyrics zu Gehör bekommt.
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Auf „Off The Record“ wirkt dagegen nichts theatral inszeniert. Das Scheitern einer in die Saiten greifenden Hand ist nicht bemüht authentisch, sondern echt, wie die Spontaneität der Musikschaffenden, die den Augenblick ad hoc zum Klingen bringen.
Gleichzeitig hätte McCraven, der die Aufnahmen ja sowieso zerlegt und neu zusammengesetzt hat, solche Passagen auch einfach herausschneiden können. So gesehen ist das Live-Feeling dann doch auch irgendwie Inszenierung. „Off The Record“, das schon dem Titel nach kein klassisches „Record“ sein will, wird eben auch einfach nicht zum Livekonzert – wie man es auch dreht.
Bei aller Negation zeigt die Platte doch, wie viel Spaß Antihaltung machen kann. McCravens treibende Beats verleihen regelrechte Euphorisierungsschübe, wie die Spiel- und Experimentierfreude seiner Bands ansteckt oder einen zumindest durch imaginäre Nachtclubs reisen lässt. Man kann sicher lange über die Ideen dahinter diskutieren – ob sie etwas taugen, entscheidet am Ende eben die Musik.
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