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Frauen müssen keine besseren Menschen sein: Die Schriftstellerin Mithu Sanyal

© dpa

Die Anthologie "Das Paradies ist weiblich": Hass auf Hoden

Warum sich nicht das Matriarchat vorstellen? Die von Tanja Raich herausgegebene Anthologie „Das Paradies ist weiblich“.

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Dieser Tage taucht immer wieder ein Twitter-Post auf in den hilflosen Storys auf Social Media: „Patriarchal men are the biggest threat to our species and the entire planet“, schreibt der Autor Fabian Hart. Sonst aber scheint es gerade niemand besser wissen und den Mann analysieren zu wollen. 

Warum also sich nicht das Matriarchat vorstellen, so wie es die von der österreichischen Autorin Tanja Raich herausgegebene Anthologie „Das Paradies ist weiblich“ tut?

(20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben. Kein & Aber, Zürich 2022. 256 Seiten, 22 €.)

Diese vereint Texte von zwanzig Autor:innen, darunter Mithu Sanyal, Kübra Gümüsay, aber auch Philipp Winkler oder Feridun Zaimuglu.

All diese Essays versuchen, das Matriarchat in den Fokus zu stellen, es wissenschaftlich einzuordnen oder auch in einem Comic oder einem Dramolett zu ironisieren.

Für den trans Mann Linus Giese heißt diese Welt „Queertopia“. Er wünscht sich kein Matriarchat, in dem die Männer den Mund halten müssen. Der Konsens der Texte lautet denn auch: Das Matriarchat ist kein Negativ des Patriarchats, sondern eine Welt ohne Hierarchien.

Eine Welt ohne Hierarchien

Wer nun meint, dass das linksliberale Fantasterei sei, lese sich zuerst die wissenschaftlichen Essays von Sanyal, Emilia Roig, Barbara Rieger und der Biologin Gertraud Klemm. Es ist unklar, ob es überhaupt je ein Matriarchat gegeben hat – zumal Ethnologie und Biologie lange darunter litten, dass „der wissenschaftliche Horizont (…) eben immer nur so schmal wie das Blickfeld des Betrachters“ ist.

Allerdings gibt es im Menschen- und Tierreich Kulturen und Arten, die zumindest matrilinear funktionieren, erfolgreich und vor allem: gewaltfrei. So gesehen ist das Matriarchat bloß eine Utopie für die Mehrheitsgesellschaft, nicht aber für Minderheiten wie etwa die Minangkabau in Indonesien.

Deren „Adat“ – Gewohnheitsrecht – dürfte sich als Grundlage für die erste Demokratie der Welt verstehen, ging es da doch um Konsensethik und nicht die Herrschaft der Mehrheit. „Wenn Werte wie Repräsentation – und damit einhergehend Respekt und Ausgleich – im Zentrum einer Gesellschaft stehen (…) gestaltet sich das Zusammenleben tatsächlich ethischer, ohne dass ihre Mitglieder – Frauen, Männer und alle weiteren Geschlechter – bessere Menschen sein müssen", schreibt Mithu Sanyal.

Hass dient der Sache letztendlich nicht

Mit Sanyals großartiger kulturwissenschaftlicher Einordung beginnt „Das Paradies ist weiblich“ – und wird beschlossen von der Aktivistin Emilia Roig. Sie zeigt auf, was sich in unserem Gesellschaftssystem ändern müsste, damit auch Männer nicht mehr an „Überlegenheitskomplexen“ erkranken und die Utopie zur Realität werden kann.

Sanyals und Roigs Texte gehören zu den besten dieser Anthologie. Sie sind klar in ihrem Aufbau und ihrer Sprache, verfallen keiner Ideologie des besseren Geschlechts. Die Frage nach der moralischen Überlegenheit wird geschickt umgangen, ja sogar: torpediert – dort, wo Frauen nach Macht gieren, ist es auch nicht schöner.

In einem bombastischen Essay schreibt die Künstlerin Sophia Süssmilch über den Druck und Schmerz der widersprüchlichen Liebe zu einer Matriarchen-Mutter, Kübra Gümüsay zeigt auf, wie auch Frauen von Machtgelüsten zerstört werden und selbst zerstören.

Es wäre aber heuchlerisch, stereotype Männlichkeit nicht als verachtenswert darzustellen, wenn mehr als zehn Frauen über das Patriarchat schreiben, gerade in einer Welt, die von einem einzigen Mann in ihrer Existenz bedroht wird, in der Machtgelüste mehr als nur eine Begleiterscheinung von Männlichkeit sind.

Männlichkeit ist für Schachinger keine Kategorie

„Der Hass auf Hoden, der vereint ungemein“, schreibt Sophia Süssmilch. Dystopische Rache lebt aber nur Mareike Fallwickl aus.

Hass dient der Sache überhaupt nicht, das wissen die Autor:innen. Hoden werden zugelassen, wenn sie sich benehmen: „Hier aber weiß die Frau: Die Menschen von großer Verkommenheit sind fast ausnahmslos Männer gewesen.", schreibt Feridun Zaimoglu in „Mutterland“, wo „allein Dummheit unverzeihlich“ ist.

Zaimoglus Erzähler schickt vom Mutterland einen Brief an einen Freund aus der „Republik der Kerlchen“, aus der er geflohen ist.

Er findet Ruhe in der besonnenen, neuen Welt: „Gut bin ich in meinem neuen Land.“ Tonio Schachinger wiederum beschreibt, wie er unter Frauen aufwuchs und sich nie um seine Männlichkeit sorgte. Männlichkeit war ihm einfach keine Kategorie.

Die Gedankenexperimente dieses Bandes sehnen eine nicht patriarchale Welt herbei. Sie braucht dabei nicht matriarchal zu sein, nur frei von Hierarchien. Spricht der Titel dieser Idee nicht entgegen? „20 Einladungen in eine Welt, in der Frauen das Sagen haben“. Sicher, es wäre an der Zeit. Eine Welt, die dominiert wird von weiblichen Stereotypen wie Einfühlsamkeit, Bindungsfähigkeit, Gewaltfreiheit, so eine Welt erscheint tatsächlich paradiesisch.

Lena Baumann

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