Kultur: Hör auf deine Hände
60 Jahre und ein bisschen leiser: Keith Jarretts neues Soloalbum „Radiance“
Keith Jarrett ist ein Besessener. Besessen von einem Sounduniversum des Unbewussten, das er in den Improvisationen seiner Solokonzerte an die Oberfläche der Wahrnehmung holt. Jarrett, der am 8. Mai 60 Jahre alt wird, ist ein empfindlicher, schwieriger Musiker, seine Auftritte beginnen mit Drohungen und Beschimpfungen des Publikums. Woher, fragt man sich, kommt die Gereiztheit, die Aggression, die sich in seinem Spiel entlädt? Ist es Lampenfieber, die Angst, den Erwartungen nicht gerecht zu werden? Ist es die Erwartung, sich immer weiter steigern zu müssen, um den Genietitel zu verteidigen?
Nach zehn Jahren erscheint jetzt mit „Radiance“ wieder ein Soloalbum des amerikanischen Jazz-Pianisten. Es ist, wie alle seine Platten, live eingespielt worden (ECM) . Nach dem „La Scala“-Album, dem Mailänder Solokonzert von 1995, verfiel Jarrett einer mysteriösen Krankheit, dem „Chronischen Erschöpfungssyndrom“, und konnte nicht mehr auftreten. Erst drei Jahre später nahm er mit „The Melody At Night With You“ wieder Stücke auf. Es wurde ein Soloalbum mit Standards und Balladen, ein intimes Zeugnis seiner Rückkehr zur Musik. Zum 60. Geburtstag veröffentlicht sein Münchner Haus-Label nun ein Doppelalbum mit zwei Konzertmitschnitten aus Japan vom Oktober 2002. Dass sie erst jetzt erscheinen, liegt an Jarrett selbst, der lange gezögert hatte, sie freizugeben.
Trotzdem: Es strahlt wieder jenes eigentümlich Jarrettsche Licht aus dem Dunkel, dem Nichts, der Angst, für immer das Spielvermögen zu verlieren. Seine Publikumsbeschimpfungen, die der Legende nach besonders ruppig ausgefallen sein sollen, sind nicht auf dem Album dokumentiert. Im CD-Booklet erfährt man, das japanische Publikum sei nicht auf das neue Format seiner Improvisationen vorbereitet gewesen. Der Auftakt ist denn auch ungewohnt abrupt, heftig. Erst später schwingen sich die Tonspiele frei, verästeln sich, werden sanft und verletzlich. Wie tief er in diese „Meditationen“ eintaucht, ist an seinem Atmen zu hören, seinem Singen und vereinzelten Stöhnen. Die intimen Nebengeräusche verstören und berühren gleichermaßen, sie zeugen von Jarretts tiefer Versunkenheit in die Musik.
Ein Mann und sein Kosmos. Indirekt spielen auf dem Album auch Idole und Wegbegleiter mit: Jarrett zitiert Saties „Gnossiennes“, Gil Evans’ „Concierto de Aranjuez“, Coltranes „A Love Supreme“. Jarretts Anschlag bohrt sich in die Motive, als wollte er sich in das Klavier hineingraben, vollkommen hineinbegeben in die Musik. Er habe diesmal mehr auf seine linke Hand hören wollen, auf die begleitende, akkordgebende, sagt er. Man spürt es an dem abgesunkenen Grummeln, das durch die Tiefenschichten seiner Seele pflügt.
Maxi Sickert