zum Hauptinhalt
Gerhard Richter in seiner Ausstellung „Streifen und Glas“ im Dresdner Albertinum, 2013.

© Staatliche Kunstammlungen Dresden/Oliver Killig

Das Werk von Gerhard Richter: Ich mal mir meine Welt

Der Katalog der Werke Gerhard Richters wächst, die Jahre von 1976 bis 1994 sind erfasst. Doch was ist mit seiner westdeutschen Frühzeit? Der Rekordkünstler hat sie aus dem Werkverzeichnis ausgeschlossen. Über ein Œuvre der Fülle und Widerspüche.

Über den ungeheuren Erfolg von Gemälden Gerhard Richters am Kunstmarkt ist oft genug berichtet worden. Hinter den astronomischen Auktionspreisen jedoch droht das Werk des Künstlers zu verschwinden. Tatsächlich zählt es zu den bleibenden Leistungen unserer Zeit. Das gilt zumal für die Gemäldereihe „18. Oktober 1977“. Der Zyklus zu den RAF-Terroristen, ihrer Gefangennahme und dem Tod im Gefängnis Stuttgart-Stammheim enthält sich jeder naturalisierenden Darstellung, vor allem aber jeder vordergründigen Wertung.

1988 entstanden, wurden die 15 Gemälde Anfang 1989 erstmals öffentlich gezeigt, zuerst in Krefeld, dann auf einer internationalen Tournee. 1995 schließlich veräußerte Richter sie an das Museum of Modern Art in New York. Er rechtfertigte dies damit, dass „die Amerikaner aufgrund ihrer Distanz zur RAF eher das Allgemeine des Themas“ sähen: „die generelle Gefahr von Ideologiegläubigkeit, von Fanatismus und Wahnsinn“. Aber natürlich war dies auch ein strategischer Schachzug, um mit dem Einzug ins MoMA in den dortselbst aufgestellten „Kanon“ der Kunst des 20. Jahrhunderts aufgenommen zu werden.

Nachzulesen ist die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte im Vorwort, das Dietmar Elger, der unermüdliche Leiter des Gerhard Richter Archivs an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, dem nun erschienenen vierten Band des nach und nach erarbeiteten Œuvre-Verzeichnisses von Richter vorangestellt hat. Mit Dresden verbindet Richter mehr als seine Herkunft; er wurde 1932 hier geboren und besuchte ab 1951 die dortige Akademie – die er 1961 mitsamt dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ verließ, um in die Bundesrepublik zu gehen und dort, in Düsseldorf, nochmals von vorne anzufangen, als Schüler der Akademie und dann als Künstler, zudem von 1971 bis 1993 als Professor für Malerei.

Darf ein Künstler Teile seines Œuvres totschweigen?

Die Frühzeit, gewissermaßen die Vorzeit der figürlich-realistischen Kunst will Richter nicht mehr gelten lassen. Er hat sie ausdrücklich aus dem Werkverzeichnis ausgeschlossen, dessen erster Band die Jahre 1962 bis 1968 umfasst, also seine westdeutsche Frühzeit. Das hat zu Recht Kritik hervorgerufen. Darf ein Künstler, weil er sich eine neue künstlerische Biografie zugelegt hat, Teile seines Œuvres totschweigen? Und wenn es dem Künstler gestattet sein mag – darf es auch ein mit wissenschaftlichem Anspruch auf Vollständigkeit und Genauigkeit auftretendes Werkverzeichnis, das doch das Ganze eines künstlerischen Lebenswerkes vorstellen soll?

Tafel aus seinem „Atlas“ 1964–1967, mit Abbildungen aus Zeitungen, Büchern und Illustrierten.
Tafel aus seinem „Atlas“ 1964–1967, mit Abbildungen aus Zeitungen, Büchern und Illustrierten.

© Staatliche Kunstammlungen Dresden/Oliver Killig, Gerhard Richter

Richter hat in der DDR und noch als Meisterschüler eine Reihe von Wandbildern geschaffen, die, mag er sich auch von ihnen distanzieren, eine wichtige Etappe markieren – und vielleicht sogar einen Schlüssel liefern zum Verständnis seiner späteren, bis heute praktizierten Ungegenständlichkeit wie auch dem gelegentlichen Wechsel ins figürlich-fotorealistische Genre. Warum sollte sich Richter nicht zu einer Arbeit wie dem Wandbild im Dresdner Hygiene-Museum bekennen, das von der SED-Kulturbürokratie als „bürgerlich-dekadent“ gebrandmarkt und zerstört wurde?

Gerhard Richter hat die Kunstwelt schon immer verwirrt

Richter, der auch nach der deutschen Einheit mit seiner Heimat Dresden zunächst nichts zu tun haben wollte, hat sich dem Werben der dortigen Staatlichen Kunstsammlungen schließlich doch geöffnet und die Galerie Neue Meister reich bedacht, mit Schenkungen und Leihgaben. Die Kunstsammlungen danken es ihm mit der Einrichtung des Gerhard-Richter-Archivs, dem Richter seinen sorgsam angehäuften Schatz von Publikationen, Fotografien, Plakaten und dergleichen überlassen hat und dessen vornehmste Aufgabe die Erstellung des Catalogue raisonné in sechs Bänden ist. Dietmar Elger, bereits in Hannover als Richter-Kenner ausgewiesen, unterzieht sich seit 2006 dieser Aufgabe. Nach dem ersten Band von 2011 liegen nun zwei weitere Bände vor, die die produktivste Phase des Künstlers vorstellen.

So produktiv, dass Band 4 nur sechs Jahre Schaffenszeit von 1988 bis 1994 umfasst, während der vorangehende, bereits 2013 erschienene dritte Band bei etwa gleichem Umfang von rund 600 Seiten und 700 Abbildungen (gleich Einzelarbeiten) elf Jahre von 1976 bis 1987 erfasst. Hatte der erste Band des Catalogue raisonné die Frühzeit des Malers nach Übersiedlung von Dresden nach Düsseldorf im Blick, steht Band 2 noch aus. Vollendet werden soll die Reihe schließlich mit zwei Bänden, die bis an die Gegenwart und – unausgesprochen – an das Ende des Lebenswerks heranführen.

Den Umschlag des vierten Bandes ziert das Gemälde „Lesende“, eines der fotorealistischen Werke im Œuvre des Malers und eine Paraphrase auf Vermeers „Brieflesendes Mädchen“, das Richter aus der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden geläufig ist. „Ich wollte aus jeder Fotografie einen Vermeer malen, aber es gelingt mir nie, nie“, hat Richter dazu erklärt. Es wurde ja auch kein Bellotto aus seinem Bild der sächsischen Festung Königstein, das, 1987 ebenfalls nach einer eigenen Fotografie entstanden, den dritten Band beschließt.

Keine Abstraktion, sondern freie Formen und Farben

Im Wechsel mit den fotorealistischen oder im weitesten Sinne abbildhaften Arbeiten entstanden die „Abstrakten Bilder“, wie Richter sie selber nennt; man sollte eher von ungegenständlich sprechen. Denn diese, in den Bänden 3 und 4 überwiegenden Gemälde abstrahieren nicht, sondern sind freie Formen und Farben, wie sie Richter nach einer vorangehenden Periode zuletzt nur mehr monochromer Arbeiten als befreiend empfand und deren Technik des Auftragens, Abkratzens und Übermalens auch mit anderen Werkzeugen als dem Pinsel er bis heute beibehält.

Der mitunter abrupte Wechsel von ungegenständlichen zu gegenständlichen Arbeiten, dazwischen noch Konstruktionen mit Spiegeln oder Glasscheiben, hat die Kunstwelt immer schon verwirrt. Für Richter indessen besteht kein Widerspruch; er betrachtet seine Arbeit durchweg als „Analogie“ zur Welt, als ein Modell, als parallele Schöpfung. Die fotorealistischen Gemälde, die Landschaften und Seestücke bilden den beim Publikum wohl beliebtesten Teil seines Werks. Ein Seestück hat es sogar auf eine Briefmarke der Deutschen Post geschafft, während der Kunstmarkt die abstrakten Arbeiten mindestens gleichermaßen honoriert, wenn nicht mit noch höheren Zuschlägen.

Richters Œuvre umfasst mittlerweile gut 3000 Arbeiten

Den Hinweis auf die Rekordpreise für Richters Werke kann sich Dietmar Elger im Vorwort denn auch nicht verkneifen. Aber natürlich spielen Marktereignisse für einen Catalogue raisonné keine Rolle. Er folgt der Handliste Richters, dessen penible Buchführung auch die Werknummern in der etwas verwirrenden Kombination von Haupt- und jeweils mehreren Unternummern vorgab. Und die Liebhaber der nach Fotovorlagen gemalten, stets wie hinter einem Schleier verhangenen und gerade dadurch als Reproduktion einer Reproduktion und nicht als „Malen nach der Natur“ ausgewiesenen Bilder müssen sich durch die Fülle dieses in sich widersprüchlichen Werks hindurchkämpfen, um dann staunend ein Meisterwerk wie die „Lesende“ zu entdecken.

Jedenfalls müssen sich künftige Generationen nicht mit der Rekonstruktion und Datierung eines Œuvres abplagen, das mit seinen mittlerweile gut 3000 Arbeiten zu den ergiebigsten unserer Zeit zählt.

Gerhard Richter, Catalogue Raisonné, Vol. 3/ Vol. 4, hg. von Dietmar Elger. Hatje Cantz Verlag, Stuttgart, 2013/2015, 640/600 S., 702/645 Abb., je 248 €

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false