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Die kalifornische Schriftstellerin Brit Bennett

© imago/ZUMA Press

Brit Bennetts Roman "Die verschwindende Hälfte": Im Abgrund der Lebenslügen

Auf der Suche nach einem Leben ohne Rassendiskriminierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung: Brit Bennetts Roman "Die verschwindende Hälfte".

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Die Zwillingsschwestern Desiree und Stella Vignes wachsen in einer merkwürdigen kleinen Stadt auf, in Mallard, Louisiana. Diese Stadt wurde erbaut von einem Mann, der zu weiß war, um sich den Schwarzen zugehörig zu fühlen und zu schwarz, um von Weißen akzeptiert zu werden.

Hier sollte ein dritter Ort entstehen, eine Stadt, in der nur Menschen lebten, die waren wie er, hellhäutig und stolz darauf. Es hat wohl in den USA tatsächlich solche Orte gegeben, in denen die Einwohner besessen waren von der Idee der Hellhäutigkeit und ausschließlich hell heirateten, um noch sozusagen noch „sahnigere“ Kinder zu bekommen.

Trotzdem waren auch die Bewohner und Bewohnerinnen dieser Städte nicht geschützt vor weißer Willkür. In Brit Bennetts Roman „Die verschwindende Hälfte“ (Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 416 Seiten, 22 €.), dessen Hauptfiguren die Zwillingsschwestern sind, wird ihr Vater eines Nachts von weißen Männern aus dem Haus gezerrt und vor den Augen seiner Töchter ermordet. Das Entsetzen bettet sich ein in die Erinnerung. Und in das Wissen: Nur wenn man weiß ist, bleibt man ungeschoren.

Als sie 16 Jahre alt sind, laufen die Mädchen von zu Hause weg und entscheiden sich für unterschiedliche Lebenswege. Desiree heiratet – sie war immer schon aufmüpfig – den schwärzesten Mann, den sie finden kann. Und Stella? Wird weiß. Arbeitet als weiße Sekretärin in einem weißen Büro, heiratet ihren Boss, bekommt eine blonde helle Tochter, lebt ein wohlhabendes, weißes Leben.

Bennett hat mit ihrem Roman einen Nerv getroffen

Und zahlt den Preis der ständigen Angst, entdeckt, ja enttarnt zu werden. Gefangen im Kerker ihrer Lebenslüge, löscht sie die Vergangenheit aus ihren Erzählungen und so weit wie möglich aus ihren Erinnerungen. Nie wieder meldet sie sich bei der Zwillingsschwester oder der Mutter. Als ein schwarzes Paar in ihre feine weiße Gegend zieht, protestiert Stella am lautesten dagegen. Denn die Gefahr von Schwarzen als ihresgleichen erkannt zu werden, ist besonders groß.

Desiree dagegen flieht vor ihrem Mann, der sie prügelt und misshandelt, und geht mit ihrer tiefschwarzen Tochter resigniert dorthin zurück, von wo sie einst geflohen ist, nach Mallard, Louisiana.

Die Schriftstellerin Brit Bennett, 1990 geboren und im südlichen Kalifornien aufgewachsen, hat mit ihrem neuen Roman einen Nerv getroffen. In den USA erschien „Die verschwindende Hälfte“, kurz nachdem der Afroamerikaner George Floyd getötet worden war – von einem weißen Polizisten, der acht Minuten und 46 Sekunden lang auf seinem Hals gekniet hatte. Die Fragen, die Brit Bennett hier stellt, hatten jedoch schon davor ihre Bedeutung, werden auch unter einem möglichen US-Präsidenten Joe Biden gestellt werden.

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Wie lebt man, wenn man schwarz, wie, wie, wenn man weiß ist? Oder besser gefragt: Wie kann man sein Leben gestalten, wenn nicht Rassismus, Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung den Alltag bestimmen? Und wie frei ist man, wenn man weiß ist?

Werden denn nicht auch die Weißen eingemauert von Ängsten, Vorurteilen, unsicheren Überheblichkeiten? Sind nicht auch sie deformiert? Innerlich unlebendig. Trotz aller Privilegien.
Schon mit ihrem Roman „Die Mütter“, von der Autorin im Alter von 26 Jahren geschrieben, sorgte Brit Bennett für viel Aufsehen.

In dieser Geschichte sind alle Protagonisten schwarz. Rassismus wird nicht eigens diskutiert. Muss auch nicht diskutiert werden, weil er sowieso immer da ist. Nicht als empörende Ausnahme, sondern als empörende Normalität, als basso continuo des schwarzen Alltags. Oft ganz subtil und dadurch nicht weniger perfid.

Manchmal fehlt es an einer Verdichtung

Brit Bennett ist eine der erfolgreichsten jungen amerikanischen Schriftstellerinnen. „Die Mütter“ und „Die verschwindende Hälfte“ standen lange auf der Bestsellerliste der „New York Times“. Der neue Roman wurde überdies für die Longlist des National Book Awards nominiert, und der Streaming Dienst HBO will daraus eine Serie produzieren.

Doch offenbar hat Brit Bennett sich schwer getan mit ihrem zweiten Roman. Es sei nicht leicht gewesen, schreibt sie im Nachwort, mit diesem „sperrigen Buch“ zurechtzukommen.
Die Mühe, die sie das Schreiben gekostet hat, merkt man „Die verschwindende Hälfte" bisweilen an. Passagenweise ufert der Roman aus, fehlt es ihm an einer Verdichtung. Da beschreibt die Autorin ausführlich jeden Gedanken, jedes Gefühl, jeden Lebensschritt, statt sich hin und wieder mit Andeutungen, Anspielungen zu begnügen und der Phantasie ihrer Leser zu vertrauen.

Während sich einzelne Szenen langatmig dahinschleppen, wird man jedoch immer wieder gepackt vom Abgrund der Lebenslügen, von der Resignation des banalen Alltags, vom Impetus, vom Zorn der nächsten Generation. Denn auf verschlungenen Wegen begegnen sich Desirees und Stellas Töchter. Das schwarze Mädchen erkennt alsbald in dem weißen ihre Cousine. Der sie nichts sagen darf, um deren Mutter nicht zu desavouieren – und der sie sagen muss, wer sie sind, um sie beide zu befreien.

Dass Desirees Tochter einen Mann liebt, der einst eine Frau war, dass die Außenseiterrolle, die Frage der Identität doppelt aufgezeigt wird, scheint auf den ersten Blick des Guten zu viel und fügt sich doch alsbald geschmeidig ein in die Lebensfragen, die hier gestellt werden: Bin ich schwarz oder weiß? Mann oder Frau? Werde ich akzeptiert oder gedemütigt? Begegnet man mir mit Vorurteilen oder habe ich sie selber? Antworten gibt Brit Bennett natürlich nicht. Sonst wäre „Die verschwindende Hälfte“ ja kein guter Roman.

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