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In den Tod. Ankunft ungarischer Juden und Jüdinnen in Auschwitz-Birkenau.

© imago/Reinhard Schultz

Buch über Auschwitz: Im innersten Kreis der Hölle

Mit dem Band über Auschwitz erreicht die Edition „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ ihren Endpunkt.

„Der Rückweg ins Lager führte an einem Krematorium vorbei, wo Leichen anscheinend auch auf Scheiterhaufen verbrannt wurden“, heißt es in einem als „geheim“ gekennzeichneten „Reisebericht“ von Vertretern des Reichsjustizministeriums, die sich im Konzentrationslager Auschwitz über Zwangsarbeit von Häftlingen informieren wollten. So recht zufrieden waren die Ministerialen nicht. Ihr Bericht schließt mit dem Satz: „Insgesamt war nicht zu verkennen, dass die Führung bestrebt war, den Einblick in den eigentlichen inneren Lagerbetrieb möglichst zu beschränken und den Besuchern stattdessen mehr Außenbetriebe und Nebenbetriebe vorzuführen.“

Warum wohl!, kann und muss man aus heutiger Sicht sagen. Die Zustände im Inneren des KZ sollten selbst vor solch überzeugten Nazis, wie es die Besucher aus dem Justizministerium waren, verborgen bleiben. Das Datum des Besuchs ist aufschlussreich – und verstärkt das Entsetzen des Lesers: Es ist der 28. Juni 1944. Die Sowjetunion hatte sechs Tage zuvor ihre Sommeroffensive mit 1,2 Millionen Soldaten begonnen; ein halbes Jahr später würden sie die Oder erreichen. Der deutsche Verwaltungsapparat jedoch arbeitete unbeirrbar weiter.

Auschwitz – der Name ist zum Synonym geworden für die Menschheitsverbrechen des NS-Regimes. „Das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gehört zu den Zentren des nationalsozialistischen Judenmords: 1,1 Millionen Juden aus ganz Europa wurden in den Jahren 1942 bis 1944 an diesen Ort deportiert, fast 900 000 von ihnen direkt nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet“, beginnt die Einleitung zu Band 16 der Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (VEJ), der „Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45“ zum Gegenstand hat. Mit diesem Band liegt die Edition noch nicht vollständig vor – es fehlen vier weitere Bände –, wohl aber kommt sie ans zeitliche Ende der Nazi-Herrschaft, die mit den Todesmärschen der Häftlinge, dem Rückzug vor den vorrückenden Truppen der alliierten Gegner, ihr grausiges Finale erreichte.

Unmittelbarkeit des Grauens

Die Edition, deren erster Band vor nunmehr zehn Jahren erschien, sammelt einen repräsentativen Querschnitt schriftlicher Quellen zum Völkermord an den Juden. Es sind dies Quellen der Opfer, der Täter sowie „Dritter“, die im Einzelnen Mitläufer und Mitwisser, aber auch tatsächlich Unbeteiligte gewesen sein können. Alle denkbaren Dokumente wurden von den Bearbeitern gesichtet, ob Akten, Protokolle, Briefe oder Kassiber.

Für den am Dienstagabend vorgestellten Band 16 hat die Historikerin am Frankfurter Fritz-Bauer-Institut, Andrea Rudorff, diese in jeder Hinsicht ungeheure Arbeit geleistet. Wie sie das aushielte, wurde sie aus dem Publikum gefragt. Fürwahr – wer sich auch nur durch einen Teil der auf jeweils rund 800 Seiten eines Bandes ausgebreiteten Dokumente, ob aus dem Deutschen Reich ab 1933, später aus dem „Reichsprotektorat“, dem „Generalgouvernement“ oder der besetzten Sowjetunion, buchstäblich hindurchkämpft, wird unweigerlich ein anderer. Der abrupte Wechsel im Charakter der nach dem Datum ihrer Entstehung chronologisch aufgereihten Zeugnisse reißt den Leser unerbittlich in den Strudel aus brutalem Befehlston, erlittenen Qualen und distanziertem Amtsbericht hinein.

Aus Sicht der Fachwissenschaft mag die Mischung der Textsorten problematisch sein; der „Systematische Dokumentenindex“ innerhalb des umfangreiche Apparates eines jeden Bandes bietet nur einen annähernden und mühsam zu handhabenden Ausgleich. Allein die Unmittelbarkeit des Grauens, das dem Leser entgegenspringt, rechtfertigt die gewählte Form. Hier ist der innerste Kern des Nationalsozialismus aufgeschlossen, vom Rassenhass bis hin zum geplanten Völkermord.

Ein Zug von Halbtoten

Wie es in Auschwitz tatsächlich zuging, hatten genau zwei Monate vor der Dienstfahrt der Ministerialen zwei slowakische Juden berichtet, denen die Flucht aus dem KZ gelungen war. In dem ausführlichen, im Buch 32 Druckseiten umfassenden Protokoll vom 23. April 1944 wird unter anderem die Ankunft der Deportationszüge geschildert: „Eine Kommission der politischen Abteilung (der SS) hat dann ca. 10% Männer und 5% Frauen ausgewählt, die abgeführt und durch die bekannte Prozedur den Lagern zugeteilt wurden. Die Restlichen wurden auf Lastautos verladen und nach dem Birkenwald geschickt, wo sie vergast wurden. Die Toten und die sich unter ihnen befindlichen Halbtoten wurden ebenfalls auf Autos verladen. Diese wurden im Birkenwald direkt verbrannt. Häufig wurden kleine Kinder auf die Autos der Toten geschleudert.“

Die Zustände auf den Märschen zur Evakuierung der in Frontnähe geratenden Lager schildert ein „politischer“ Häftling aus Österreich, der in einem Außenlager schuften musste: „Nach dem Aufbruch in der Frühe formiert sich ein Zug von Halbtoten. Vorne marschieren die, welche noch Lebenskraft haben. (...) Denn hinter ihnen ist das nackte Grauen. Zerlumpte, verdreckte, bärtige Gestalten, in Decken gehüllt, kauern, liegen im Stroh und müssen mit Gewalt auf die Beine gebracht werden. (...) Die SS treibt sie mit Stock- und Peitschenhieben an.“

Die Lektüre zwingt zur Besinnung

In einem anderen Bericht vom Januar 1945 wird die vergebliche Flucht von Häftlingen geschildert: „ Die SS-Männer wurden rasend vor Wut. Sie brachten alle um, die sich vor ihnen im Hof befanden, ungefähr 150 Personen. (...) Einige der Verletzten flehten um den Gnadenschuss. Die SS-Männer schossen ihnen drei Kugeln in den Kopf. Dann warfen sie eine Handgranate (...) in den Krankenbau.“

Man müsste endlos weiterzitieren. Es ist eine furchtbare Lektüre aus der furchtbaren ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und doch darf sie nicht zur Schockstarre führen. Sie darf nicht instrumentalisiert werden, weder für noch gegen jemanden. Sie zwingt zur Besinnung. Die Edition VEJ steht für sich.

Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden (...). Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. De Gruyter/Oldenbourg, Berlin 2018. 883 S., 59,95 €.

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