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Heimliches Wappentier. Ein sächsischer Wiedehopf füttert seine Brut mit Eidechseneiern.

© imago/imagebroker

Elisabeth Plessens Roman „Die Unerwünschte“: Im Zeichen des Wiedehopfs

Fortsetzung der Adelschronik: In ihrem Roman „Die Unerwünschte“ zieht Elisabeth Plessen alle Register des dichterischen Schimpfens.

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Das war schon immer so: Schreiben heißt für Elisabeth Plessen, sich mit ihrer gräflich-landadligen Verwandtschaft zu überwerfen, gegen sie zu streiten, Konventionen infrage zu stellen. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Über Jahrzehnte hin schuf sie eine romanhafte Familienchronik, in der politische und soziale Tendenzen der jüngsten Vergangenheit literarisch reflektiert und aktuelle ideologische Kontroversen zur Sprache gebracht werden. Auch wenn Von-und-zu-Sprösslinge im Mittelpunkt des Geschehens bleiben, hat man beim Lesen nie den Eindruck, eine fremde Welt zu betreten. Was hier ästhetisch subtil vermittelt wird, sind Werthaltungen, Lebensformen, Ambitionen, Schwächen und Betrugsmanöver, die für Angehörige bürgerlich-kleinbürgerlicher Schichten nicht minder bezeichnend sind, auch wenn der sozial vermittelte Habitus sich noch klassenmäßig unterscheiden lässt.

„Die Unerwünschte“ ist nach „Mitteilung an den Adel“ (1976) und „Das Kavalierhaus“ (2004) der dritte Band einer Romantrilogie. Ihr Personal entstammt dem holsteinisch-protestantischen mittleren Adel. Die Protagonistin trägt in den drei Büchern jeweils einen Vornamen der Autorin: In der „Mitteilung“ heißt sie Augusta, im „Kavalierhaus“ Elisabeth und in der „Unerwünschten“ Charlotte. Der autofiktionale Roman ist eine Gattung, die Lebenserfahrungen der Autorin oder des Autors erkennbar durchscheinen lässt, wie die autofiktionale Biografie ihren dichterischen Anteil nicht verleugnet.

Erinnerung an nationalsozialistische Kriegsverbrechen

„Mitteilung an den Adel“ wurde als Vater-Tochter-Konflikt inszeniert. Das Buch war auch deswegen ein Bestseller, weil es dem neuen Feminismus der 1970er Jahre eine Stimme verlieh. Hier lässt die studentisch-bewegte Tochter aus guter Familie die gleichsam wappenbewehrten, petrifizierten Standesvorurteile des Familienpatriarchen weit hinter sich. Von ersten weltanschaulichen Befreiungsversuchen und geistigen Grenzüberschreitungen während der Internatszeit erzählt zauberhaft realistisch und melancholisch „Das Kavalierhaus“.

„Die Unerwünschte“ ist reicher orchestriert als die beiden früheren Texte. Die Story zweier durch Verwandtschaft verbundener Herrensitze wird als Verfallsgeschichte erzählt. Von Racheaktionen wie in der amerikanischen Fernsehserie „Denver Clan“ aus den 1980er Jahren ist man denkbar weit entfernt. Eher drängen sich Assoziationen zu Thomas Manns „Buddenbrooks“ auf, auch wenn es dort um Repräsentanten eines städtisch-aristokratischen Bürgertums im 19. Jahrhundert im Gegensatz zum verbürgerlichten Landadel im 20. geht. Der Erzählgestus bei Thomas Mann ist ironisch-humorvoll, bei Plessen eher satirisch-sarkastisch. Der Lübecker Autor schrieb sein Buch als junger Mann, Plessens Roman ist ein Alterswerk. Die Autorin begnügt sich aber nicht mit der Analyse eines Untergangs. Die Welt der Landaristokratie zerfällt, doch beim Nachwuchs finden sich Fälle gelungener Lebensentwürfe, in denen man ohne Berufung auf Adelsprädikate und ohne Privilegienerwartung auskommt. In der „Unerwünschten“ werden Schicksale von Frauen und Männern aus drei Generationen geschildert. Die Figur der Charlotte gehört der zweiten Generation an und bleibt im Mittelpunkt, denn aus ihrer feministischen Sicht wird erzählt.

Plessen gehört zu den Romanciers, die den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch unwiderruflich in die Gegenwartsliteratur eingeschrieben haben. Der Titel des Buches bezieht sich auf Charlotte. Ihre „Unerwünschtheit“ hat damit zu tun, dass sie sich öffentlich erinnert: an die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, an die Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der Behinderten und der politischen Gegner.

Freundinnen und Freunden als Wahlverwandte

Aber es geht auch um die Vorgeschichte zur Diktatur und ums Verdrängenwollen der Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik. Charlotte wird während ihrer Studienzeit in Berlin zu einer Achtundsechzigerin, die sich mit Antizipationen einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft identifiziert, wobei sie eine Affinität zu den Schriften Bakunins entdeckt.

Sie schart im Lauf ihres Lebens einen Kreis von Freundinnen und Freunden als Wahlverwandte um sich. Das in Plessens Buch zitierte Wort „Wahlverwandtschaft“ ist Goethes Meisterwerk entlehnt, doch dessen verkreuzte Viererkonstellation von Ehe- und Liebespaaren werden in der „Unerwünschten“ keineswegs nachgestellt. Plessens Roman steckt voller Anekdoten über die Mitglieder dieses Freundschaftszirkels, der sich nur zum Teil mit Figuren aus der gräflichen Großfamilie überschneidet.

Unentschieden ist ihre Beziehung zur Tante Stefanie, die – nicht sonderlich erfolgreich – versucht, den Erbhof trotz des Versagens ihres Mannes durch ökonomische Krisen zu steuern. Dabei wird ein Reflexions- und Handlungsstrang profiliert, der an lang zurückliegende Religionskonflikte während Christianisierung und Reformation erinnert. Die Schwundstufe eines Odin-Kults aus germanischer Zeit hat sich gegen alle Bekehrungsanstrengungen bis in die Gegenwart erhalten. Stefanies Familie bekennt sich zum Luthertum, doch konvertiert sie wegen der Heirat mit einem katholischen Aristokraten. Nach der Scheidung macht sie den Übertritt rückgängig.

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Elisabeth Plessen.

© Marco Arturo Marelli

Eine stärkere religiöse Bindung als zur göttlichen Trinität der christlichen Konfessionen entwickelt sie zu Odin, dem kriegerischen, wissensreichen und sterblichen Gott der Germanen. Sie reitet als junge Frau leidenschaftlich gern. Ihr Pferd heißt „Sleipnir“, benannt nach Odins schnellem, weil achtbeinigem Hengst. Die Anspielungen auf Stefanies Walkürenverzückung durchziehen den Roman, und noch im Tod flattert Odins Rabe Munin durch ihre Jenseitsfantasien.

Einen zuweilen witzigen Intertext bilden die vielen Hinweise auf alles, was Flügel trägt. Charlotte will aus der Vogelperspektive beobachten, um ihren Horizont zu erweitern. Sie vergleicht sich mit dem Wiedehopf. Das ist jener Hornvogel, der bei der Verteidigung der Brut sein eigenes Nest beschmutzt. Vetter Willo trägt die Maske des Vogelfängers aus der „Zauberflöte“; die Cousine Cecilie legt sich den Namen Celia von Lerche zu Lerchenstein zu, um unerkannt in einer Berliner Kneipe kellnern zu können; die wahlverwandte Pauline studiert Landwirtschaft, genauer Geflügelhaltung.

In Sachen Kritik ist Elisabeth Plessen eine Meisterin

Ihr fallen die Ähnlichkeiten im Verhalten der Menschen mit dem lieben Federvieh auf. Freund Ulrich erobert das Herz der Studentin Charlotte mit einem indischen Huhn-Gericht. In der Küche der Gutshäuser scheint sich alles um Fasan, Pute, Gans und Ente zu drehen. Einer der älteren Verwandten, dessen Passion die Schnepfenjagd ist, kann Vogelstimmen nachahmen: des Finken, der Goldammer, der Nachtigall, der Wachtel, des Kuckucks und des Wiedehopfs.

Er erwähnt – und da hört der Spaß auf –, wie viele Vogelarten vom Aussterben bedroht sind. Das wiederum ist der Grund dafür, warum die umweltbewusste Nichte Alma Ornithologin wird: Dem gefährdeten Wiedehopf erschließt sie neue Lebens- und Entfaltungsbereiche.

„Die Unerwünschte“ ist ein Buch über das Recht der Schriftstellerin auf „Nestbeschmutzung“. In Sachen Kritik ist Elisabeth Plessen eine Meisterin, und in ihrem Roman zieht sie alle Register dichterischen Schimpfens. Die Lektüre wird dazu verführen, die beiden ersten Teile der Trilogie neu zu lesen. Die Marotte, sich ein Familienwappen zuzulegen, hat sich in postaristokratischer Zeit erhalten. Fragte man Elisabeth Plessen, welches Wappentier sie sich wählen würde, wäre es bestimmt der Wiedehopf.

Elisabeth Plessen: Die Unerwünschte. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2019. 379 Seiten, 22 €.

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