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Was machen wir heute?: In die Vergangenheit reisen

Alle zehn Jahre, so sagt die Statistik, zieht der Berliner um. Alle paar Jahre später, so sagt die Lebenserfahrung, kommt er in seine alte Gegend zurück – und wundert sich.

Alle zehn Jahre, so sagt die Statistik, zieht der Berliner um. Alle paar Jahre später, so sagt die Lebenserfahrung, kommt er in seine alte Gegend zurück – und wundert sich. Darüber, dass sich gar nichts verändert hat. Oder wie viel sich doch verändert hat!

So erging es jüngst auch dem West-Berliner, als es ihn mal wieder in den Reuter-Kiez verschlug. Das ist die Ecke zwischen Sonnenallee, Kottbusser Damm, Maybachufer und der Rütli-Schule. Einst eher übel beleumundet, macht sie heute als „neues Szeneviertel“ oder „Kreuzkölln“ von sich reden. Trödelhändler sind durch Dessousgeschäfte ersetzt worden, das Reuter-Eck, seit je eine gardinenbewehrte Klause, ist zum lichtdurchflossenen Goldberg geworden, in dem statt Futschi Orangen-Möhren-Suppe mit Ingwer serviert wird. Wo Migrantenmütter Deutsch lernen sollten, wartet jetzt „Classic Home Design“ auf Kundschaft, und wo der West-Berliner einst im schummrigen Lädchen eines betagten Elektromeisters eine Sicherung erwarb, ist nun eine japanische Galerie. Vorn an der Kreuzung stehen spanische Touristen! Vor nicht zu langer Zeit traf man hier nicht mal Kreuzberger Touristen.

Von all diesem Wandel unbehelligt aber liegt mittendrin das Zeitlos. Eine Eckkneipe alter Art, das Buffet aus Holzfurnier, am Hahn Schultheiss, aus der Musikbox Stimmungshits, die Sprache unverstellt. „Mann Rudi, halt doch mal den Rand!“ Die Gäste heißen Nadine und Jürgen, Sabine und Gerd. Sie gehen abhängigen, prekären oder undurchsichtigen Beschäftigungen nach. Oben im Haus hat der West-Berliner gewohnt, und wenn er hier unten saß, kam er sich immer vor wie im Aquarium: zwischen lauter exotischen Fischen. Fremde Wesenheiten, möglicherweise anaerob lebend, qualmsatt wie die Luft hier ist, aber gewiss nicht analkoholisch. So sitzen sie da, Tag um Tag, Nacht für Nacht.

Doch was soll nur aus ihnen werden, wenn auch hier einmal eine Cocktailbar einzieht? Diese Leute wollen doch ihre Wahl nicht aus 20 Sorten Gin treffen. Sie sind vollauf zufrieden mit der Frage, ob sie ihr Bier lieber in der Kugel oder der Tulpe hätten. Holger Wild

Das Zeitlos ist in der Reuterstraße 47.

Holger Wild

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