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Imaginäre Abendgesellschaft im französischen Ferney. Voltaire erhebt das Glas, Diderot (vorne rechts) hält sich noch zurück. Gemälde von Jean Huber.

© R/D

Dialektik der Aufklärung: In einer Welt mit vielen Stimmen

Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht würdigt den Skeptiker Denis Diderot als polyfonen Zeitgenossen.

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War Denis Diderot ein Außenseiter? Zunächst erscheint er als eine Art Epizentrum des schillernden „Siècle des Lumières“. Er lebte in Paris, er war gesellig, gut bekannt mit Voltaire, d’Alembert, Rousseau oder d’Holbach. Er war so etwas wie die Triebfeder der „Encyclopédie“, also des größten und einflussreichsten Projekts der französischen Aufklärung. Und schließlich wagte er, um mit Kant zu sprechen, sich gegen alle Widerstände seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Diderot kam sogar ins Gefängnis, weil er „radikale“, seinerzeit also materialistische respektive atheistische Gedanken zu Papier gebracht habe.

Bei genauer Lektüre seiner oft widersprüchlichen Texte aber, von denen „Jacques der Fatalist und sein Herr“ oder „Rameaus Neffe“ für die Schublade geschrieben waren und erst posthum erschienen, letzterer zunächst auf Deutsch in der Übersetzung Goethes, stellt sich zunehmend die Frage, inwieweit sich Diderot wirklich vor einen Karren namens Aufklärung spannen lässt.

Misstrauen gegen die Vernunft ist ratsam

Es gebe gute Gründe, „einer imperativ auftretenden Vernunft – und dem sie begleitenden Fortschrittsfundamentalismus – zutiefst zu misstrauen“, schrieb der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht unlängst in einem „NZZ“-Artikel, in dem er sich mit Diderot und dem jungen Voltaire befasste.

Schon Horkheimer und Adorno konstatierten bekanntlich die abgründige Dialektik der Aufklärung. In seiner großartigen Studie „,Prosa der Welt‘. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung“ hat es sich Gumbrecht nun zur Aufgabe gemacht, die Schriften des berühmten Skeptikers und Humoristen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

[Hans Ulrich Gumbrecht: „Prosa der Welt“. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 400 Seiten, 36 €.]

Seine entscheidende Frage lautet, ob vielleicht erst unser 21. Jahrhundert Diderots Zeit werden könnte. Damit unternimmt er den ersten überzeugenden Versuch, das Phänomen – oder auch das Phantom – Diderot als Ganzes in den Blick zu nehmen. Selbst ein so versierter Interpret wie Jean Starobinski näherte sich ihm nur in einer breiten Reihe von Aufsätzen.Gumbrecht macht kein Hehl aus seiner Sympathie für Diderots ironischen Geist.

Diderot lässt sich vor keinen Karren spannen

Die Frage, woher die Faszination für einen literarischen Philosophen rührt, von dem sich gar kein klarer Begriff machen lässt, stellt in den minutiösen Lektüren des „Jacques“, des „Neffen“, von „D’Alemberts Traum“ und der „Salons“, also der kunstkritischen Schriften, die Gumbrecht vornimmt, eine Art Leitmotiv dar. Diderot, so Gumbrecht, habe viele Stimmen, die keinesfalls miteinander identisch seien. Entsprechend schwer lässt er sich vereinnahmen, schon gar nicht fügt er sich derart in ein „progressives“ Geschichtsverständnis ein, wie es Voltaire oder, noch deutlicher, Rousseau zugutegehalten wird, der üblicherweise als wegweisender Verfechter der Gleichheit angesehen wird.

Diderot erscheint vor diesem Hintergrund solch gravierender Entwicklungen eher als Randfigur. Dieses Schicksal teile er mit dem Aphoristiker Lichtenberg, mit Mozart und mit Goya, dessen „Caprichos“ Gumbrecht einer ausgiebigen vergleichenden Analyse unterzieht, allen voran die berühmte Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, deren Titel – und damit wären wir wieder bei der Dialektik der Aufklärung – auch mit „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ übersetzt werden könnte. „

Wer aber intellektuell atmen und mit einem Grad von Unabhängigkeit leben möchte, der kann die kollektiv-utopisch verstandene ,Aufklärung‘ keinesfalls als Norm hinnehmen. Und er hat in der Tat die Möglichkeit, sich auf ein anderes Verständnis des Aufklärungserbes als Stil individueller Skepsis zu berufen“, schreibt Gumbrecht.

Notwendige Formen des Fortschritts

„Prosa der Welt“ zeigt, wie Diderot die Komplexität der Welt und der Wirklichkeit nicht zu schmälern versuchte, indem er sie in ein System „notwendiger Formen des Fortschritts“ zwängt – so wie es etwa Hegel, den Diderots Denken und Schreiben stark faszinierten, in seinen Schriften unternahm. Für Diderot bleibt die Welt „überwältigend – und zuweilen lustvoll – komplex“.

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Genau hier liegt für Gumbrecht ein möglicher Anknüpfungspunkt für unsere Gegenwart. Diese erscheine nicht mehr als ein bloßes „Kontingenzfeld“ zwischen Freiheit und Notwendigkeit, sondern als ungleich komplexeres „Kontingenzuniversum“, in dem nichts mehr notwendig, aber alles möglich ist.

Unsere ins Unermessliche gewachsene Freiheit wurde gerade dadurch auch eine Belastung. Denn sie geht einher mit einer Überforderung, die bei vielen eine Sehnsucht nach einfachen Antworten weckt. Ein Diderot aber würde sich der Komplexität, die uns umgibt, mit Begeisterung, Toleranz und dem Willen – sowie der Gabe – größtmöglicher Differenzierung widmen.

Tobias Schwartz

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