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Kultur: Jerusalem ist überall

Wenn der Motor des Alltags nicht mehr läuft: „Broken Wings“ erzählt von einer Familie im Notstand

Sie alle wollen fliegen: Der zehnjährige Ido, der davon träumt, den Rekord im Turmspringen zu brechen, in ein leeres Schwimmbad hinein. Der rebellische Teenager Yair, der mit seiner Freundin eines Nachts nackt im Schulfenster steht, vor ihnen der Abgrund und die Entscheidung: sterben oder lieben. Die erschöpfte Mutter, die immer wieder an ihrem alten, nicht anspringenden Auto verzweifelt, immer in Eile, immer zu spät. Und die älteste Tochter Maya, die Sängerin werden will. Ihr erstes Lied, dem Vater gewidmet, heißt: Broken Wings.

Gebrochene Flügel haben sie, die Mutter Dafne mit ihrer vierköpfigen Familie. Was sie brach, war der unerwartete Tod des noch jungen Vaters im Sommer. Und jetzt ist Winter, und die Restfamilie fliegt mit Lichtgeschwindigkeit auseinander. Weil nichts mehr funktioniert wie früher: Die Mutter, gegen Un- und Todesfälle nur unzureichend versichert, muss im Krankenhaus Nachtschichten schieben und kann sich nicht um die Kinder kümmern. Yair rebelliert und hat die Schule geschmissen, um als Mickeymaus verkleidet Flugblätter zu verteilen. Und die 17-jährige Maya muss immer häufiger als Ersatzmutter für die beiden Jüngsten sorgen und ihre Proben dafür ausfallen lassen. Ihre erste Liebe, der erste Schultag der Schwester, die zart aufkeimende Sympathie eines Oberarztes für Dafne – alles saust vorbei.

Eine Allerweltsgeschichte, die Regisseur Nir Bergman in seinem ersten Spielfilm erzählt. Eine, die nur zufällig in Israel spielt und ebenso an jedem anderen Ort der Welt geschehen könnte – in den verwahrlosten Neubaugebieten Jerusalems genauso wie in Plattenbauten am Rande ostdeutscher Städte, in den Banlieus von Paris oder Moskau oder den Industriestädten Großbritanniens. Es ist wenig von Israels spezieller Situation zu sehen in diesem Film, in dem Palästinenser, Mauer, Intifada oder Attentate nicht verkommen. Doch der Grundton einer allgemeinen Bedrohung und Ausweglosigkeit ist vielleicht doch Ausdruck auch einer besonders gefährdeten Lebenssituation.

Nir Bergman zeigt, wie man „normal“ leben kann in Israel, und wie schwierig das ist. Wie hier, wie überall sonst, die privaten Katastrophen wichtiger sind als das große weltpolitische Geschehen. Und wie Armut ganz leise in das Leben einer Familie treten kann, nicht mit dem großen sozialen Abstieg, sondern mit tausend Kleinigkeiten: das Auto, das nicht mehr fährt und ersetzt werden müsste, die Wäsche, die nicht mehr gewaschen wird, die Wohnung, etwas eng, aber nicht ungemütlich, die langsam immer unordentlicher wird. Die Babysitterin, die man sich nicht leisten kann. Und dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Ankämpfens gegen die alltäglichen Katastrophen: „Jeden Tag eine neue Krise“, singt Maya in ihrem ersten Lied. In diesem Moment ist sie uns sehr nah.

Genau das ist wohl der Grund, warum dieser Film, 2002 auf dem Filmfest von Jerusalem vorgestellt, sich zum Publikumsliebling in aller Welt entwickelt hat – auch die Berlinale 2003 ehrte ihn mit dem Panorama-Publikumspreis und dem Preis der Ökumenischen Jury. Nir Bergman nimmt sich die Zeit, seinen Protagonisten zuzusehen. Er beobachtet, wie Yair (beängstigend aggressiv: Nitai Gaviratz), an aller Rebellion vorbei, heimlich Verständnis entwickelt für die Mutter, die sich neu verliebt, wie er, scheu und ungeschickt, sie seiner Unterstützung zu versichern versucht. Er zeigt auch, wie die kleine Bahr (schon sehr verantwortungsbewusst: Eliana Magon) sich durch Trotz und Verweigerung Liebe zu erkaufen sucht. Er zeigt, wie sich der Bruder Ido (frech: Baniel Magon) in eine Traumwelt flüchtet, bis er fast nicht mehr zurückkommen kann.

Und er zeigt, wie sich der Konflikt zwischen Mutter und Tochter immer mehr zuspitzt, wie er zum Zentralthema des Films wird. Wie Maya (Lichtgestalt: Maya Maron) rebelliert gegen die übergroße Verantwortung, die die Mutter ihr unbedacht oder hilflos aufbürdet. Wie die Mutter (eine zweite Kati Outinen: Orly Silbersatz-Banai) sich aufreibt zwischen Arbeit und Familie, wie sie keine Zeit hat für ihre eigenen Wünsche. Und erst sehr spät begreift, dass ihre Kinder, auch die schon fast erwachsene Tochter, mehr als alles andere Liebe brauchen. Und Zeit. Weil sie noch Kinder sind und keine ebenbürtig mitkämpfenden Erwachsenen. Am Ende wird die Mutter die Tochter in den Arm nehmen, wie ein kleines Kind. Und dann lachen sie beide, schieben noch einmal das Auto an, und trampen schließlich nach Hause zurück. Da ist nicht die Tochter erwachsen geworden, sondern die Mutter noch einmal jung. Schöner lassen sich gebrochene Flügel nicht wieder heilen.

In Berlin in den Kinos Blow Up, Central, Filmkunst 66 und fsk am Oranienplatz (OmU)

Christina Tilmann

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