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Josepha Mendels.

© Rob Bogaerts /Anefo/Wikipedia

Josepha Mendels: Puppen sind besser als Männer

Ein Leben zwischen Holland und Paris: Josepha Mendels’ außergewöhnlicher Emanzipationsroman „Rolien und Ralien“-

Der Vater ist ein Patriarch; er hätte sich einen Jungen gewünscht, bekommen hat er lauter Töchter. Die Mutter: ein fremdes Wesen. Die Schwestern Agnes und Mieke sind älter, frecher, vernünftiger. Bleiben Rolien nur die Puppen: Zu denen hat das Mädchen an der Schwelle zur jungen Frau eine innige Beziehung, besonders zu einer namens Dora.

Das andere, nahe Wesen existiert nur in ihrem Kopf, aber dort dominiert es: Immer wieder funkt es dazwischen, gibt gute Ratschläge und strenge Anweisungen, lässt sich nicht mehr abschütteln. Ralien heißt dieses zweite Ich; eine zuweilen lästige Doppelgängerin, von der Rolien in Josepha Mendels’ Roman „Rolien und Ralien“ niemand erzählen kann.

Überhaupt hätte Rolien so viel zu erzählen und mehr noch zu fragen. Denn das Erwachsenwerden besteht aus lauter Rätseln: Was hat es mit den Bekannten der Eltern auf sich, was etwa mit dem seltsamen Notar, der sie mitten auf den Mund küsst und eine obskure Äußerung tut: Selbst wenn sie zehn Jahre älter wäre, wüsste er immer noch nicht, was er tun sollte, sagt er.

Männer gehören ohnehin in eine eigene Kategorie. Sie sind Rolien suspekt, und sie mag sie nicht. Bei Frauen ist das anders. Vor allem ihre Lehrerin Clara Balto hat es ihr angetan; mit ihr entstehen die ersten Tagträume.

„Rolien und Ralien“ ist der autobiografisch geprägte, mit einer naiven, schwebenden Zärtlichkeit geschriebene Debütroman der niederländischen Schriftstellerin Josepha Mendels. Bei Erscheinen des Buches 1947 hatte Mendels schon ein bewegtes, unkonventionelles Leben hinter sich.

In den letzten Lebensjahren kehrte sie in die Heimat zurück

1902 in Groningen in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren, ging sie als junge Frau nach Paris, um Journalistin zu werden. Sie emigrierte, den Nazis entfliehend, nach London, wo sie sich als Angestellte eines Nachrichtendienstes durch die Kriegszeit schlug. Danach kehrte sie zurück nach Frankreich, arbeitete in der Pressestelle der niederländischen Botschaft, bekam einen Sohn, schrieb schließlich ihre ersten Romane, denen wenig Erfolg beschieden war.

Spät aber wurde sie doch noch wahrgenommen, und sie konnte ihre Wiederentdeckung in den achtziger Jahren miterleben. Als die feministische Literaturwissenschaft nach vergessenen Autorinnen suchte, stieß sie zum Glück auch auf Mendels. Nicht nur ihre Bücher wurden nun in den Niederlanden breiter rezipiert, auch ihr selbstbewusstes, emanzipiertes Leben erfuhr eine Würdigung. Es folgten Ehrungen, und in ihren letzten Lebensjahren kehrte Mendels zurück in ihre Heimat. 1995 starb sie in Eindhoven.

Mit dem Roman „Du wusstest es doch“ wurde Mendels vor zwei Jahren hierzulande vorgestellt. Nun also ihr Debüt, „Rolien und Ralien“ – erstmals in deutscher Übersetzung von Marlene Müller-Haas. Der Roman erzählt in einer zwischen Traum und Wirklichkeit changierenden Sprache von Kindheit und Jugend in einer holländischen Stadt, von Unschuld und Versuchung, von Abschieden und Aufbrüchen und der schmerzhaften Entdeckung der eigenen Sexualität.

Sie will den Tod sehen

Immer wieder gibt es für Rolien Trennungen und Verluste zu überstehen: Das ganze Buch ist eine psychologisch eindringliche, subjektiv-versponnene Erinnerung ans Erwachsenwerden, das als Prozess vielerlei Abspaltungen verstanden wird. Was Rolien dabei hilft, ist die Entdeckung der Literatur. „Ein Heft mit achtzig Seiten, ein weicher, glatter Bleistift und ein versilberter Bleistiftspitzer ersetzen das ausrangierte Spielzeug. Rolien wird schreiben.“

Ein Emanzipationsschub: Die Puppen sollten auf die Rolle als Frau vorbereiten, in den 1910er Jahren natürlich auf die einer Gattin und Hausfrau. Rolien verweigert diese Aussicht mit großer Emphase. Sie flüchtet nach Paris, führt ein bohemistisches Leben, verdient ihr Geld als Modell der Zeichenakademie, als Aushilfe in einer Buchhandlung und bei einem Fotografen.

Und versucht, ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Gegenüber den Männern, denen sie begegnet, wahrt sie Distanz, was freilich vor Verletzungen nicht schützt. Schließlich kehrt sie zurück nach Holland, als ihr Vater im Sterben liegt. „Sie will doch wissen, was das ist, der Tod. Sie will den Tod sehen, sie will den Tod berühren. Wovor fürchtet sie sich dann noch?“

So wird sie vom väterlichen Über-Ich befreit. Und sie befreit sich von ihrer inneren Stimme Ralien. Ob Rolien nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen nun aber ins Offene zieht oder vielleicht gar ins Wasser geht, wie angedeutet wird – das können wir am Ende dieser außergewöhnlichen Coming-of-Age-Geschichte nur ahnen.

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