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Früher Surrealismus. „Die Zugbrücke“ aus den „Carceri d’Invenzione“ (1760) von Giovanni Piranesi.

© SMB/Volker-H. Schneider

Kerker und Kunst: Im Labyrinth der Seele

Von Piranesi bis Rosemarie Trockel: Eine Charlottenburger Schau untersucht den Kerker als Motiv der Moderne.

Sind es die ausweglosen Kerkerverliese, die sich unsere Fantasie in dunklen Nachtstunden ausmalt? Oder ist es unsere freiheitsliebende Fantasie, die in Gefangenschaft ihrer Ängste, Zwänge und Triebe gerät? Geht es hier eher um Fantasiekerker oder um Kerkerfantasien? Kaum ein anderer Künstler hat die Nachtseiten der Fantasie je so gekonnt eingefangen wie Giovanni Battista Piranesi in seinen „Carceri d’Invenzione“.

Die berühmte Folge der 16 Radierungen steht im Zentrum der diesjährigen Präsentation der Sammlung Scharf-Gerstenberg (Schloßstraße 70, bis 10. November), die sich dem Fantastischen und Surrealen verschrieben hat. Die labyrinthischen Kerker Piranesis mit ihren Treppen, Bögen, Gittern, Ketten und Seilen erscheinen bei äußerster Genauigkeit als paradoxe Fantasmagorien der Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit.

Piranesi als Vorläufer des Surrealismus

Mit ausschnitthafter Nahsicht und schwindelerregenden Perspektiven erzeugt Piranesi eine Monumentalität sondergleichen. Inspirationen fand der italienische Architekt, Zeichner und Kupferstecher sowohl im barocken Bühnenbild als auch bei den archäologischen Erkundungen seiner römischen Wahlheimat. Beeindruckt von den sprechenden Ruinen wurde das unterirdische Rom zu seinem Lebensthema. Es ist eine „Archäologie des Traums“ (Norbert Miller), die Piranesi zum Vorläufer des Surrealismus und einer zeitlosen, durch keine Psychologie je zu entschlüsselnden Romantik macht.

Der große Erfolg seiner „Carceri“ von 1750 führte zu der zweiten überarbeiteten Edition von 1761, die noch verdunkelter und verschachtelter als die erste erscheint. Im Säulengewölbe des ehemaligen Marstalls, der im Anschluss an den östlichen Stühlerbau die neue Sammlungspräsentation beherbergt, haben die „Carceri“ einen idealen Raum gefunden. Durch das ägyptische Kalabscha-Tor kommend stößt man jedoch zunächst auf ein unbekannteres Schlüsselwerk, eine Art Holzständer mit Schlüssel und Ei, das uns die Determination unserer Herkunft auf spielerische Weise vor Augen führt. Der „Schlüssel der Geburt“ (1952/57) von Christian d’Orgeix ist eine von mehreren Leihgaben von Julietta Scharf, die als Tochter von Dieter Scharf und Urenkelin von Otto Gerstenberg die surrealistische Sammeltradition fortsetzt.

Selbstironischer Widerstand

Das Thema des Gefangenseins entfaltet sich im 19. Jahrhundert in unterschiedlichsten Facetten. Bei Francisco de Goya erscheint der Kerker nicht nur als Ort der Einsamkeit und existentieller Bedrohung, sondern bietet auch Anlass zu scharfer Kritik. „Die sichere Verwahrung eines Angeklagten verlangt keine Folterung“ (um 1810/20) zeigt einen Häftling mit Fuß- und Handfesseln, der diagonal in seine Kerkerzelle gezwängt ist.

Für Honoré Daumier, der wegen seiner bissigen Karikaturen vorübergehend selbst in einer Heilanstalt einsaß, eröffnet die dort entstandene Serie „Imagination“ (1833) einen Weg selbstironischen Widerstands, wohingegen Odilon Redon das körperlose Profil seines „Zellengesichts“ (1890-95) mit einer helmartigen Kugel umschließt, die in ihrer autistischen Abgeschiedenheit einen Schutz- aber auch Isolationsraum schafft. Dass es sich bei seiner Kohlezeichnung eines vergitterten Fensters nicht um ein Kerker-, sondern ein Kirchenfenster handelt, spielt keine Rolle bei einer thematischen Ausstellung, die rund 50 Exponate aus 250 Jahren mit einem surrealen Imaginationsband verbindet. Nur die aus Fundstücken zusammengebaute Skulptur „Frau hinter Gittern“ (1977) des russischen Künstlers Vadim A. Sidur gehört zu den eher plakativen Werken in einer eigenen Raumnische.

Das eigene Ich als Gefängnis

Piranesis Idee der paradoxalen Verschränkung von Innen- und Außenraum wird im 20. Jahrhundert von Giorgio de Chirico wieder aufgegriffen, der in seiner Pittura metafisica einen „metaphysischen“ Freiraum etabliert. Von den Zwängen der Realität befreit, bot er den Surrealisten einen neuen, „über-realen“ Spielraum, in dem sich jenseits aller moralischen Normen die Verlockungen und Bedrohungen des Eros wie aller anderen Träume und Triebe darstellen ließen.

Sehr real waren dagegen die traumatischen Erfahrungen im französischen Internierungslager Camps de Milles, die sich in den Werken von WOLS und Hans Bellmer niedergeschlagen haben. Mehr noch als die reale Hafterfahrung wird für Bellmer jedoch das Gefängnis des eigenen Körpers mit seinen sexuellen Obsessionen zum großen Lebensthema, das er in der Kunstfigur seiner Puppe in allen Spielarten und Ausdrucksformen ausagiert.

Wie sehr das eigene Ich zum Gefängnis werden kann, zeigt sich schließlich auch in Rosemarie Trockels Wandzeichnung „Prisoner of yourself“ von 1998, die den letzten Raum mit zarten Luftmaschen umgibt. Mit ihr korrespondiert eine undatiertere Selbstübermalung von Arnulf Rainer, die das Porträt des Künstlers fast vollständig hinter seiner Malerei verschwinden lässt. Ist es bei Rainer das künstlerische Dilemma zwischen Offenbaren und Verbergen, das ihn gefangen hält, sind es bei Trockel die gesellschaftlichen Muster, in die wir alle verstrickt sind.

Ob Mann oder Frau, „Mr. Knife and Miss Fork“ (1931) sind ein lustiges Paar und der Titel des gleichnamigen Buchs von Max Ernst, das die Befangenheit im Rollenspiel der Geschlechter nicht allzu ernst nimmt. Denn auf Messers Schneide und auf Gabels Spitze getrieben, können aus den schlimmsten Kerkern der Fantasie die schönsten Luft- und Lustschlösser erwachsen.

Dorothea Zwirner

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