
© Daniel Porsdorf/Chamäleon Theater
Zirkusprojekt "Raven" im Chamäleon: Kinder, Küche, Vertikalseil
Öffentliche Gelder für den zeitgenössischen Zirkus: Das Projekt „Raven“ im Chamäleon Theater ist das erste Residenzprogramm für diese Kunstform.
Stand:
„Ich war einmal ein verdammter Adler.“ So klingt der aus dem Off tönende und auf eine Leinwand projizierte Stoßseufzer einer unsanft auf dem Boden gelandeten Luftakrobatin. Einst war sie Herrin der Lüfte, nun gleicht sie als Mutter zweier Kleinkinder einer lahmen Ente. Nichts als Waschen, Putzen, Kümmern und unerfüllbare Ansprüche, die vom perfekten Heimchen bis zu Jobangeboten wie diesem reichen: zwölf Shows die Woche, Reisebereitschaft, Maximalgewicht 45 Kilo.
So eine Abrechnung mit Mütterlichkeitsstereotypen, wie sie das Künstlerinnenkollektiv „Still Hungry“ mit seinem Projekt „Raven“ am Montagabend im Chamäleon Theater zeigt, war auf dieser sonst dem zirzensischen Entertainment gewidmeten Varietébühne noch nicht zu sehen. Inspiriert von der „Regretting Motherhood“-Debatte der letzten Jahre, haben sich die Luftartistin Anke van Engelshoven, die Kontorsionistin Lena Ries und die Vertikalseil-Akrobatin Romy Seibt mit ihrer eigenen Mutterschaft auseinandergesetzt und eine vorerst 50 Minuten lange Work-in-Progress-Skizze erarbeitet.

© Daniel Porsdorf/Chamäleon Theater
Die noch deutlich entwicklungsfähige, mit Wäschebergen, Plastikpuppen, Vogelfedern, Rockmusik und sparsam eingesetzer Artistik hantierende Rabenmutter-Show markiert den Übergang Deutschlands vom Entwicklungs- zum Schwellenland des zeitgenössischen Zirkus. „Raven“ ist sichtbares Zeichen seiner Anerkennung als öffentlich geförderte Kunstform. Denn das von der Choreografin Cristiana Casadio und der Performancekünstlerin Bryony Kimmings mitinszenierte Projekt ist aus dem ersten Residenzprogramm für zeitgenössischen Zirkus in Deutschland überhaupt hervorgegangen. Initiiert von Anke Politz, der künstlerischen Leiterin des Chamäleons, und mit 65 000 Euro unterstützt vom Berliner Senat. Eine Summe, die Politz in zwei Künstlerprogramme aufteilt. Vor der Show hat sie mit der Auswahljury, zu der auch Berliner-Festspiele-Intendant Thomas Oberender gehört, über den nächsten Bewerbungen gesessen – das Programm ist für in Berlin ansässige Künstler vorgesehen.
Die Kostprobe von „Raven“ zeigt, das ernste Themen auch im neuen Zirkus einen Platz haben. Bleibt das Dilemma, dass die Reduzierung der artistischen Anteile zugunsten eines Themas oder einer Geschichte stets auf Kosten des Staunfaktors geht. Auch „Raven“ ist mehr Schauspiel als Zirkus. Josa Kölbel, Chef des Berlin Circus Festivals, will das Stück aber auf jeden Fall dort zeigen. Das Festival auf dem Tempelhofer Feld läuft vom 24. August bis 2. September (Infos: www.berlin-circus-festival.de).
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: