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Fimfestspiele Locarno

© Promo

Kino: Ein Tequila für drei Tiger

Engel & Diven: Das Filmfest Locarno feiert sein 60-Jähriges. Ein Blick ins Jubiläumsprogramm.

Magischer Moment, jeden Abend neu: Der Scheinwerfer fährt auf die Kirchturmuhr von Santa Maria Assunta, der Zeiger rückt auf halb zehn, ein Leopard streift über die Leinwand, und die sonore Stimme des 76-jährigen Tessiners Luigi Faloppa sagt den Film an, wie schon seit Jahren, mit Sonderapplaus. Jeden Abend neu auf der Piazza Grande in Locarno: die Magie des Kinos. Da sieht man dann Anna Magnani in „Bellissima“, wie sie verzaubert, verhext ist vom Open-Air-Kino vor ihrer Sozialwohnung, bis sie ihre Tochter um jeden Preis zum Kinostar machen will. Viel hat sich nicht geändert in den über fünfzig Jahren seit Viscontis Neorealismus-Meisterwerk. Das Kino verhext und verzaubert, jeden Abend neu.

Da macht es auch nichts, dass das Piazza-Grande-Programm im 60. Jubiläumsjahr des Filmfestivals am Lago Maggiore stark auf US-Mainstream setzt, von Paul Greengrass’ dritter Bourne-Fortsetzung „The Bourne Ultimatum“ über John Travolta in „Hairspray“ bis zu Roberto Rodriguez’ Horrorfantasie „Planet Terror“. Der Eröffnungsfilm ging diesmal besonders weit in die Zukunft: Fumihiko Soris Animationsfilm „Vexille“ wirft einen finsteren Blick nach Japan im Jahr 2077. Roboter beherrschen das Land und die letzten Menschen versuchen verzweifelt, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Das Ganze, perfekt animiert und technisch avanciert, wirkt erschreckend leblos, viel Geballer, wenig Gefühl, keine Überraschungen: Veremutlich der lauteste Eröffnungsfilm, den die Piazza Grande je gesehen hat. Dank der neuen Technik dürften den Bewohnern der umliegenden Straßen die Ohren wie bei einem Rockkonzert geklungen haben. Doch nicht die Maschinen, sondern die Menschen sind es, die das Festival mit Hingabe und Standing Ovations feiert: Es ehrt die Kinogiganten Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni, zwei Tage vor Festivalbeginn am gleichen Tag verstorben, mit Gedenkvorführungen, ebenso den Taiwanesen Edward Yang („Yi Yi“), der zum Jubiläumsfestival eingeladen war und vor wenigen Wochen verstarb. Es feiert die Diven des italienischen Kinos in der Retroschiene „Signore et Signore“, die ausgerechnet mit Antonionis „La donna senza camelie“ eröffnet, auch das eine Geschichte, die von Kinoliebe und -leidenschaft erzählt.

Zwanzig italienische Diven, darunter Anna Magnani, Gina Lollobrigida, Sophia Loren, Monica Vitti, Claudia Cardinale, Alida Valli, Silvana Mangano werden in Locarno geehrt. Viele von ihnen gaben dem Festival in den ersten Nachkriegsjahren seinen Glanz: Der Jubiläumsfestivaltrailer gibt einen Eindruck jener unbeschwerten Dolce-Vita-Jahre.

Wichtiger ist jedoch die zweite Retroschiene, „Retour à Locarno“, die jene Regisseure ehrt, die in Locarno entdeckt wurden und nun zum Jubiläum zurückkommen: Marco Bellocchio erzählt, er habe dem Festivaldirektor eine Kopie von „I pugni in tasca“ ohne Ton vorgeführt und der Film sei trotzdem eingeladen worden. Raul Ruiz gewann für „Drei traurige Tiger“ den Hauptpreis und war nicht in der Lage, das Übergewicht für die geschätzt zwanzig Kilo schwere Statue zu zahlen. Er ließ sie deshalb mit einer Flasche Tequila im Hotelzimmer zurück. Mike Leigh, Ken Loach, Milos Forman, Claude Chabrol, Jim Jarmusch, Spike Lee, George Lucas oder Ang Lee: Für Entdeckungen war Locarno immer gut, sei es der italienische Neorealismus mit Filmen wie „Rom offene Stadt“ und „Fahrraddiebe“, sei es das indische Bollywoodkino, das mit „Lagaan“ auf der Piazza Grande seinen ersten großen Auftritt in Europa hatte. Auch Abbas Kiarostami mit „Wo ist das Haus meines Freundes?“ oder Roberto Benigni mit „La vita è bella“ kamen in Locarno heraus. Dieses Jahr ist es etwa der 25-jährige Chris Fuller, der zehn Jahre als Autodidakt an seinem Film „Loren Cass“ gearbeitet hat und dessen kompromisslose Analyse einer verlorenen Jugend in St. Petersburg, Florida, eine der ersten Festivalentdeckungen ist. Dann „La Maison Jaune“ von Amos Hakkar, die karge, hochemotionale Geschichte einer algerischen Familie, die um den Tod des ältesten Sohnes trauert. Und Anthony Hopkins, sehr entspannt, sehr gut gelaunt, stellt seinen zweiten Spielfilm „Slipstream“ vor, eine satirische, halb biografische Film-im-Film-im-Film-Geschichte aus Hollywoods Produzentenmilieu.

Der schöne Dokumentarfilm „Locarno 60“ von Cristina Trezzini und Stefano Knuchel schließlich lässt die sechzig nicht immer leichten Jahre noch einmal vorbeiziehen. Man sieht das 2005 geschlossene Grand Hotel, einst der geliebte Festivaltreff, in dessen Garten 1946 das Festival begann. Man sieht Stars im Fiat Cinquecento oder in Limousinen anreisen. Roberto Benigni erzählt, wie er sich während der Vorführung von „Permanent Vacation“ mit Jim Jarmusch und Nicoletta Braschi vor dem Regen in eine Telefonzelle geflüchtet habe. Nanni Moretti schimpft über die unbequemen Stühle im Ausweichquartier, der riesigen Kongresshalle FEVI, und die superjunge, supersüße Penelope Cruz erzählt begeistert und in gebrochenem Italienisch, wie glücklich sie in Locarno sei.

Und man sieht einen sehr bewegten Wim Wenders, der zum 40. Geburtstag des Festivals seinen Film „Der Himmel über Berlin“ auf der Piazza Grande vorstellt: Der Himmel über Berlin und der Himmel über Locarno und Engel, die auf der größten Freiluftarena der Filmwelt unter Sternen über die Leinwand schweben, vor 8000 Zuschauern. Zwanzig Jahre später, zum 60. Jubiläum des Filmfestivals, schweben die Engel noch einmal auf der Piazza Grande über die Leinwand: Zur Einweihung der neuen, hochtechnisierten Filmkabine hatte sich das Publikum ausgerechnet Wenders’ Berlin-Film gewünscht. Kinomagie, nie war sie stärker.

Christina Tilmann

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