
© Marco Borggreve/Boulez Saal
Kirill Gerstein erfüllt den Boulez-Saal: Ein Kosmopolit am Klavier
Der Pianist Kirill Gerstein ist eine echte Erscheinung. Im Boulez-Saal konnte das Publikum ihn und sein virtuoses Spiel hautnah erleben.
Stand:
Wie eindrücklich (er)füllt Kirill Gersteins Erscheinung die Intimität des Pierre-Boulez-Saals. Neben der schwarz attribuierten, respekteinflößenden Physis, kann man eine große Künstlerpersönlichkeit ganz nah erleben. Der Kosmopolit Gerstein gibt sich die Ehre des Heimspiels mit fulminant gewürztem Sonatenprogramm nebst Beilagen.
Die Eckpfeiler des Klavierrezitals, Strawinskis „Sonate für Klavier“ und Schuberts beziehungsweise Liszts „Klaviersonaten in C- und H-Moll“, werden mit den „Harmonies Poétiques et religeuses“ des letzteren Komponisten sowie zwei ausgewählten Etüden Ligetis. Dessen Geburtstag jährt sich 2023 zum 100. Mal.
Sonatenkoloss in vier Sätzen
Die Grundverschiedenheit der drei sehr individuellen Beiträge zur Gattung Sonate ist offensichtlich. Strawinsky schreibt 1924 drei Sätze mit ausdrücklichem Bezug auf die ursprüngliche Wortbedeutung: „sonare“, also klingen, ohne sich explizit um formale Parameter zu kümmern. Schuberts ausladender Sonatenkoloss in vier Sätzen hingegen sucht spürbar Anlage und Dimension der klassischen Symphonie.
Die Liszt’sche Kreation dann verschmilzt den üblichen Sonatenhauptsatz (Exposition, Durchführung Reprise nebst Coda) mit den Merkmalen der mehrsätzigen Form (Kopfsatz, langsamer Satz, Scherzo, Finale) in nur einem halbstündigen Satz.
Höchste pianistische Anforderungen
Diese epochemachende Konstruktion von 1853, der Versuche anderer Komponisten wie beispielsweise Schumann („Fantasie in C-Dur“) oder Schubert („Wandererfantasie“) vorausgegangen waren, beschäftigte Liszt fast vier Jahre und wies in seiner progressiven Natur bis weit ins 20. Jahrhundert.
Mittlerweile ist das Stück, das höchste pianistische Anforderungen stellt, in jedem zweiten Konzert hören. In der Auslegung Gersteins bewahrt sich die Kraft wie Relevanz dieser Musik unverändert.
Kurzweilig, aber voller Tiefe
Die großen musikalischen Marksteine des Abends geraten kurzweilig, fast episodisch und doch voller Tiefe. Leichte, fantastisch imperfekte Schmisse an den üblichen neuralgischen Punkten im Schubert sind schnell verziehen. Überhaupt sind richtig und falsch bürgerliche Kategorien.
Gerstein gibt sich als echter Künstler, als Klangpoet der in seinen belauschenden Bann zu schlagen weiß.
Große Vergleiche sind nicht zu scheuen: „Die Fanfares“ sind noch eindrucksvoller kontrolliert als von einem Pierre-Laurent Aimard, Fugato und Stretta der Liszt-Sonate stehen in Tempo und Virtuosität einem Horowitz in nichts nach, sind sogar viel intelligenter gestaltet.
Fast scheint es, als atmete heute der Geist György Sebőks aus den großen Spannungsbögen der leicht gefügten Phrasen.
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