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Der 32-jährige Gustavo Dudamel dirigiert 2013 Richard Strauss’ symphonische Dichtung „Till Eulenspiegel“.

© Stephan Rabol

Klassik digital: Die zehn besten Konzerte

Die Berliner Philharmoniker haben ihre Digital Concert Hall kostenlos für alle geöffnet. Mehr als 600 Konzerte sind auf der Internetplattform abrufbar. Klassik-Redakteur Frederik Hanssen stellt seine Top 10 vor.

Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker ist eine Schatzkammer: Als das Orchester seinen Internet-Konzertsaal 2008 eröffnete, war die Plattform die erste ihrer Art überhaupt. Mittlerweile sind dort über 600 Live-Mitschnitte sowie Dokumentationen gespeichert. Gedacht war das Angebot eigentlich für all jene Fans der Philharmoniker, die weit weg von Berlin leben und den Musikerinnen und Musikern dennoch nahe sein möchten. Gerade in Japan fanden sich viele Klassikliebhaber, die bereit waren, Abos für die Digital Concert Hall abzuschließen.

Nach dem Shutdown der Kulturszene im Zuge der Coronakrise hat sich das Orchester dazu entschlossen, sein eigentlich kostenpflichtiges Angebot gratis zur Verfügung zu stellen, bis Ende April. Weil nun eben auch den Berlinerinnen und Berlinern das Live-Erlebnis im Scharoun-Bau verwehrt ist. Vorerst noch bis zum 31. März kann man sich anmelden und erhält einen Gratis-Zugang für 30 Tage, der sonst fast 20 Euro kostet.

Einen Mehrwert bietet die Aktion auch dem Orchester: Durch die Registrierung werden Mailadressen der Interessierten gesammelt, die später, wenn der Regelbetrieb wieder angelaufen ist, gezielt angesprochen werden können, um sie als zahlende Kunden zu gewinnen.

Wer die Zugangsschranke zur Digital Concert Hall passiert hat, sieht sich schnell mit dem Gefühl der Überforderung konfrontiert. So wie ein Besucher in einer Bibliothek, der vor den endlosen Regalreihen steht und sich nicht entscheiden kann, wo er zuerst zugreifen soll. Empfehlungen können da weiterhelfen. Zum Beispiel diese ganz persönliche Top-Ten-Liste.

Platz 1: das Silvesterkonzert 2002
Ein alltime favourite! Das beste, heiterste Jahresend-Event, an das ich mich erinnern kann. Simon Rattle bringt bei seinem ersten Silvesterkonzert den Broadway nach Berlin, mit Songs von George Gershwin und einer konzertanten Fassung von Leonard Bernsteins „Wonderful Town“. Bevor ihm mit der „West Side Story“ ein Jahrhunderthit gelang, hatte der komponierende Dirigent bereits mehrere Musicals geschrieben. Dieses spielt im Künstlerviertel Greenwich Village, es geht um zwei junge Frauen aus der Provinz, die in New York ihr Glück versuchen wollen. Rattle verströmt pure Lebensfreude, die seriösen Damen und Herren von den Philharmonikern werden zur Big Band. An diesem Abend haben sie wirklich den Swing, die Stimmung springt sofort in den Saal über, am Ende feiern alle zusammen eine Riesenparty.


Platz 2: Abbado dirigiert „Das Lied von der Erde“
Als Interpret der Werke von Gustav Mahler war er unerreicht. Leider finden sich in der DCH nur fünf Konzerte, die dokumentieren, wie es Abbado gelang, die bittersüße Atmosphäre zu beschwören, die diese Form der Wiener Spätromantik ausmacht. „Das Lied von der Erde“ mit Angelika Kirchschlager und Jonas Kaufmann entstand 2009, vom ersten Takt an ist zu spüren, dass hier existentielle Fragen verhandelt werden. Die betörende Schönheit der schillernden Klänge erzählt von der Dekadenz, die jeder Hochkultur innewohnt, kurz bevor sie zugrunde geht.

Platz 3: Petrenko im Schloss
Eine schöne Geste war das Freiluftkonzert, das die Philharmoniker mit ihrem designierten Chefdirigenten im August 2018 im Schlüterhof zugunsten des Berliner Schlosses gaben. Obwohl das Wetter nicht recht mitspielen wollte, war die Stimmung deutlich entspannter als tags zuvor im Stammhaus. Prachtvoll entfalten sich die beiden Strauss-Tondichtungen; bei der sehr tänzerisch genommenen Siebten von Beethoven kommt dann sogar mal die Sonne raus. Das Beste ist: Der Zuschauer kann Kirill Petrenko ins Gesicht sehen, sich von seiner expressiven Mimik, seinem sympathischen Lächeln verführen lassen, wie es sonst nur den Musikerinnen und Musikern vergönnt ist.

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Platz 4: Karajans Gottesdienst
Alexis Weissenberg war Karajans Lieblingspianist, zwei Auftritte der beiden von 1967 und 1971 sind in der DCH abrufbar. Irrwitzig wirkt für den heutigen Betrachter die vom Maestro selber gewollte Bildästhetik: Karajan wird als unfehlbarer Klassikpapst beim kunstreligiösen Hochamt inszeniert, die weiteren Mitwirkenden dagegen sind kaum zu sehen, nur als wogende Masse von Hinterköpfen oder ganz am Rande bei den extremen Nahaufnahmen der Instrumente. Weissenberg musste für die Regie Tschaikowskys 1. Klavierkonzert doppelt spielen: zunächst mit dem Orchester, dann alleine im Foyer – für jene Sequenzen, die ihn als Solisten wie im luftleeren Raum zeigen. Skurril.

Platz 5: Ozawa in der Waldbühne
Ach, was waren das für selige Zeiten, als man sein Picknick noch mitbringen durfte zum Saisonabschluss der Philharmoniker unter freiem Himmel, als getafelt und getrunken wurde im Halbrund der Waldbühne und als nach Einbruch der Dunkelheit keine Handy-Displays leuchteten, sondern echte Kerzen. 1993 war der Sommerabend herrlich. Man lagerte direkt vor der Bühne auf dem Rasen, wo heute die VIP-Plätze sind, es gab keine kitschige Lichtregie, es ging einfach nur um die Musik. Die Highlights des russischen Repertoires dirigierte Seiji Ozawa, mit Verve und durchweg auswendig, maximal charismatisch im weißem Rolli zur Mao-Jacke. Am Ende tanzt er so ausgelassen zur „Berliner Luft“ wie die Leute auf den Rängen.

Platz 6: Dudamel feiert Don Juan
Der damals 32-jährige Sonnyboy unter den Shootingstars dirigiert 2013 Richard Strauss – und schon klingt Till Eulenspiegel nach commedia dell’arte, wird Don Juan tatsächlich zum latin lover. Selten tönte Klassik so lebensprall und gefühlsecht. Was die Erinnerung als überwältigendes Live-Erlebnis gespeichert hat, überträgt sich auch im Mitschnitt – wobei es sich empfiehlt, hier einmal die Bildebene auszublenden und nur der Tonspur zu lauschen: Beim Genuss der Klangerotik, der süßen Sinnlichkeit und lüsternen Emphase irritiert es, gleichzeitig in die hoch konzentrierten Gesichter des hart ackernden Orchesters zu schauen.

Platz 7: Thielemann als Seelsorger
Ein Antipode von Gustavo Dudamel ist Christian Thielemann. Er repräsentiert den seriösen Kapellmeister, der einzig danach strebt, mit protestantischer Ernsthaftigkeit die Intentionen der Komponisten zu erforschen. Gemeinsam mit den Philharmonikern und dem Berliner Rundfunkchor wird Brahms’ „Deutsches Requiem“ zur Messe der inneren Einkehr, zum intimen Zwiegespräch des Gläubigen mit seinem Schöpfer. Musik als Seelentröster, das tut gut, nicht nur in diesen Zeiten.

Platz 8: Mehtas „Otello“
Bob Wilsons Inszenierung der letzten Verdi-Oper im vergangenen Jahr bei den Osterfestspielen der Philharmoniker in Baden-Baden zwingt die Darsteller in ein strenges szenisches Korsett. Umso entfesselter singt Sonya Yoncheva die Desdemona anschließend bei den konzertanten Aufführungen in Berlin. Und ihr zur Seite stehen dabei mit Arsen Soghomonyan als Otello und Luca Salsi als Jago zwei echte „Rampensäue“ – die vom altmeisterlich-minimalistisch dirigierenden Zubin Mehta gerade so weit im Zaum gehalten werden, dass maximal packendes Musiktheater entstehen kann.

Platz 9: Eine Reise ins Herz des Orchesters
Neben den Konzertmitschnitten bietet die DCH auch so manche Dokumentation über das Orchester und seine Chefs. „Trip to Asia“ von 2008 zum Beispiel geht weit über einen Tourneebericht hinaus. Zwischen den Impressionen von Auftrittsorten und fernöstlicher Exotik erzählen Simon Rattle und die Orchestermitglieder aus ihrem Berufsleben, von den Anfängen als musikalisch entflammte aber einsame Teenager über den gnadenlosen Auswahlprozess auf dem Weg an die Spitze bis hin zu den künstlerischen Selbstzweifeln, die niemals vergehen. Eine Offenheit, die nachhaltig berührt.

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Platz 10: Boulez musiziert für Europa
An ihre Gründung erinnern die basisdemokratisch organisierten Philharmoniker mit dem jährlichen Europakonzert am 1. Mai. Diesmal sollte es in Tel Aviv stattfinden. 2003 leitete Pierre Boulez die Matinee im Hieronymus-Kloster vor den Toren Lissabons. Einen großartigen Kontrast bildet die hellsichtige, analytische Klarheit seiner Interpretationen zum überbordenden spätgotischen Steinschmuck der Kirche. Die Portugiesin Maria João Pires spielt Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 ebenso kristallin, als feinfühlige Klang-Rhetorikerin.

[www.digitalconcerthall.com. Die Konzerte lassen sich auf allen Arten von Computern und Smartphones abspielen]

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