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Nasse Reise. Victor Kossakovski hat auf der ganzen Welt gedreht.

© Neue Visionen

Klimakrise mitgedacht: Die Doku „Aquarela“ feiert das Wasser

Regisseur Victor Kossakovki ist ein Perfektionist und erst zufrieden, wenn das Publikum staunt. Mit „Aquarela“ gibt er sich in neunzig Minuten dem Wasser hin.

Eine große glitzernde Eisfläche vor dunklen Bergen, auf der sich Männer in dicken Jacken vorsichtig hin und her bewegen. Ab und zu hockt sich einer hin, um durch das Eis ins Wasser hinabzuschauen. Dann wird am Rande des schon brüchigen Eisfelds mit einer einfachen hölzernen Seilwinde ein Pkw aus dem See gezurrt.

Wir hören Knackgeräusche, sehen andere eingebrochene und auch ein einbrechendes Auto – und den dramatischen Versuch, einen aus dem Wagen unter die Eisfläche gelangten Mann zu retten. Irgendwann fast unbemerkt der Schauplatzwechsel zu einer anderen stark bewegten Eis-Wasser-Landschaft, vor der ein Zweimastsegler gleitet.

Dies sind die ersten zwanzig Minuten von Victor Kossakovkis neuem Film „Aquarela“, der sich in neunzig Minuten dem Wasser hingibt. Dabei werden Tonlage und Tempo bald von beobachtender Distanz zu immersiver Nähe hochgezogen.

Der 1961 geborene russische Filmemacher hat sein Handwerk zu Sowjetzeiten im Leningrader Dokumentarfilmstudio gelernt. Seiner Heimatstadt hat er 2003 auch seinen bisher wohl schönsten Film „Tishe!“ gewidmet, wo er aus einem Fenster seiner Wohnung die Straßenbauarbeiten zum anstehenden 300-jährigen Stadtjubiläum und einige Passanten filmt und daraus eine minimalistische absurde Komödie baut.

Die Digitalisierung bietet Kossakovskis Ehrgeiz neue Chancen

Kossakovski ist ein Perfektionist und Kontrollfreak, der nicht nur in „Tishe!“ alle Positionen von der Kamera bis zum Schnitt selbst ausfüllt. Er ist auch ein filmischer Extremsportler, der erst zufrieden ist, wenn er das Publikum in Staunen versetzt hat.

[„Aquarela“ im Eva-Lichtspiele, Union Filmtheater, OmU: Delphi LUX, Filmtheater am Friedrichshain, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Rollberg, Wolf]

Die Digitalisierung und Miniaturisierung des Kamerawesens bietet solchem Ehrgeiz viele neue Chancen, wie sich an den durch massiven Drohneneinsatz zustande gekommenen Wow-Momenten von „¡Vivan las Antípodas!“ zeigte, wo der Regisseur mit monumentalem Stil und leicht esoterischem Einschlag antipodische Orte der Erdkugel vorstellte. 2012 erhielt er dafür den deutschen Kamerapreis.

Die Klimakrise ist immer mitgedacht

Auch „Aquarela“ ist visuell ganz großes Kino, das mit enormem Aufwand und technischen Höchstleistungen realisiert wurde. Wieder geht die Fahrt – diesmal ohne ausweisende Ortsangaben – um die Welt vom Baikal über Grönland bis zu den venezolanischen Salto-Ángel-Fällen, wo der Urstoff unseres Lebens in sprühenden Güssen von einem Felsplateau stürzt.

Vorher ausgiebig Ozean als wildes Wogengebirge oder abstraktes Kräuselmuster. Tosender Tropensturm und fluffiger Nebelstaub. Selbstverständlich ist (auch ohne verbalen Kommentar) bei der überwältigenden Naturschönheit immer die Klimakrise mitgedacht, wenn der Baikal Wochen vor dem üblichen Termin auftaut oder krachend abstürzende Eisberge sich wie sterbende See-Elefanten aufbäumen.

Eine am Steuerrad eines Zweimastschoners im Bild auftauchende Seglerin lässt in der Ferne Greta Thunbergs Atlantiküberquerungen anklingen. Dabei akzentuiert Musik der finnischen Cello- Metal-Band Apocalyptica drohende oder erhabene Momente, drängt sich aber selten in den Vordergrund.

Möglich wurde die deutsch-britisch-dänische Koproduktion durch die Zusammenarbeit vieler traditioneller Institutionen wie der britischen und dänischen Filminstitute, der mitteldeutschen Medienförderung und RBB/Arte mit der auf social impact entertainment spezialisierten Produktionsfirma Participant Media, die schon für Filme wie „Citizenfour“ oder „Roma“ verantwortlich zeichnete.

Das machte für dokumentarische Verhältnisse luxuriöse Drehbedingungen mit langen Vorrecherchen und Drehzeiten möglich. Und Ben Bernhards Tüfteln an Spezialkamerakonstruktionen, die viele der spektakulären Aufnahmen erst ermöglichen. In ihrer Wucht erinnern diese weniger an ein zart hingetupftes Aquarell als etwa an die Meeresholzschnitte von Katsushika Hokusai.

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