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Kolumne „Mehrwert“, Folge 39: Kreuzchen machen
Über den Ur-Moment der Demokratie und die Kostbarkeit des Wahlrechts, das in fast 40 Prozent der Länder weltweit nicht existiert.

Stand:
Ein Kreuz, noch ein Kreuz, es ist ein lapidarer Moment. Ich trete hinter die sperrhölzerne Wahlkabinenwand, greife zum Stift, mache meine Kreuzchen, mehr ist es nicht. Ein banaler, gleichzeitig erhabener Augenblick, das Ur-Momentum der Demokratie. Hier bin ich Souverän.
Auch die Demokratie hat eine Aura, man übersieht sie oft. Jetzt, im Wahllokal in der Sekundarschule, ist sie mit Händen zu greifen: In dem Klassenzimmer, in dem ich immer meine Kreuze mache, herrscht eine heitere, auch ein wenig feierliche Stimmung. Junge Eltern erklären ihrem Kleinkind, wie das funktioniert mit dem Wählen, das händchenhaltende Paar trennt sich kurz, um ordnungsgemäß geheim abzustimmen, die Wahlhelferin ist stolz auf die sich abzeichnende hohe Beteiligung. Und hallo Nachbarn, schön, dass Ihr da seid.
Der ganze Kiez ist auf den Beinen, die Sonne scheint, Wahltag ist Feiertag. Die Demokratie ist in Gefahr, in immer mehr Ländern der Welt. Auch in Deutschland feiert eine Partei Wahlerfolge, die an deren Grundfesten rüttelt. Aber an diesem Sonntagmittag eint uns etwas anderes: das Bewusstsein um die Kostbarkeit des Wahlrechts.
Dem Demokratieindex zufolge, den die britische Zeitschrift „The Economist“ zuletzt für das Jahr 2023 veröffentlichte, leben nur 7,8 Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie, in denen neben Wahl- und Bürgerrechten auch das Abgeordnetensystem, Pluralismus und Teilhabe funktionieren. 24 Länder, mit Norwegen an der Spitze und Deutschland auf Platz 12.
Bei fast 40 Prozent aller Länder handelt es sich hingegen um Diktaturen, von China über Russland, Iran und Palästina bis nach Afghanistan. Der große Rest wird als „Hybridregime“ (Hongkong oder Georgien) oder „Unvollständige Demokratie“ (Israel, Italien, Ungarn oder die USA) eingestuft. In unvollständigen Demokratien werden zwar freie und faire Wahlen durchgeführt, aber die Opposition wird unterdrückt und es mangelt an politischer Teilhabe und Meinungsfreiheit.
Deutschland gehört zur kleinen Gruppe der unbeschädigten Demokratien. Nicht dass hier kein Unrecht geschieht, auch hier wird Menschen das Wahlrecht verwehrt, denen es zusteht. Aber wer offen dagegen protestiert und dafür kämpft, dass sich das ändert, dem droht keinerlei Gefahr. Auch das macht den Augenblick des Kreuzchen-Machens so kostbar. Verspielen wir ihn nicht.
Mit dieser Folge endet die Kolumne, in der Christiane Peitz regelmäßig über Menschenrechte, Diskriminierung und Zensur schrieb.
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