
Ingo Metzmacherr: Kommt ins Offene!
Metzmacher triumphiert mit "Aufbruch 1909": Für solche Abende, für solche Programme braucht die Hauptstadt Ingo Metzmacher - und zwar über 2010 hinaus! Viel zu lange schon ziehen sich die Verhandlungen um eine Vertragsverlängerung für den Chef des Deutschen Symphonie-Orchesters hin.
Dabei gibt es derzeit kaum einen interessanteren deutschen Dirigenten, und sicher keinen, der besser zum neuen, neugierigen Berlin passt. „Aufbruch 1909“ lautet sein Saison-Motto, gemeint ist jener Schlüsselmoment in der Musikgeschichte, als Arnold Schönberg die zwölf Töne des traditionellen Dur-Moll-Systems in die Freiheit entließ. Das DSO umkreist diesen Urknall der Atonalität auf höchst anregende Art und Weise, gibt Mitstreitern wie Feinden Schönbergs ein Forum, zeigt die Folgen und Ursachen der verwegenen Tat.
Mit Richard Wagner, Anton Bruckner und Gustav Mahler bringt Metzmacher am Sonnabend drei Persönlichkeiten zusammen, die maßgeblich den Boden für die musikalische Moderne bereitet haben. Dreimal geht es hier um den Blick gen Himmel: den hoffnungsvollen Blick Elsas im „Lohengrin“, den tränenverhangenen des Dichters Friedrich Rückert in den „Kindertotenliedern“ und schließlich den gottesfürchtigen Blick des als Mensch so zerrissenen, als Komponist so radikalen Anton Bruckner. Zwei Tage, bevor das DSO mit seinem künstlerischen Leiter zu einer großen Asien-Tournee aufbricht, haben die Metzmacher-Fans die Philharmonie noch einmal überrannt. Und sie erleben eine Sternstunde, einen Abend, der sich tief ins Gedächtnis einbrennt.
Das Berliner Publikum ist berühmt für seine Bereitschaft zur Konzentration – doch selten hat ein Saal wohl so atemlos zugehört wie bei diesem magisch von innen heraus leuchtenden „Lohengrin“-Vorspiel, selten so mitfühlend einem Sänger gelauscht wie Matthias Goerne in Mahlers Rückert-Zyklus. Zu Weihnachten 1833 sterben die beiden jüngsten Kinder des fränkischen Dichters an Scharlach, in über 400 „Kindertotenliedern“ versucht er seinen Schmerz zu verarbeiten. 1905 hüllt Mahler fünf Gedichte des herzwunden Erzählers in ein klingendes Kleid. Mit verzweifelt ins Leere greifenden Händen macht der Bariton sie zu einem Ereignis, findet alle Klangfarben der Verzweiflung, spricht sich selber Mut zu, vermag die Erinnerung dann doch nicht zu verklären, hadert mit dem Schicksal, bis die Pein des Vaters schließlich in Wahnsinn umschlägt. Ein existenzielles Hörerlebnis.
Von atemberaubender Intensität ist anschließend auch Metzmachers Zugriff auf Bruckners 7. Sinfonie. Doch nun ist es pure Lebensenergie, die er ins Orchester pumpt. Und seine Musiker lassen sich elektrisieren, wachsen über sich hinaus, federnd, leicht, mitreißend im emphatischen Eröffnungssatz, von inniger Liebe durchglüht im Adagio, mit kraftvoll pochendem Puls im Scherzo. Unbegrenzt scheint die Konzentrationsfähigkeit des DSO an diesem Abend, wenn sich das 65-minütige Mammutwerk zur Apotheose steigert, durchaus mit apokalyptischen Zügen, schließlich aber doch in die Erlösung mündet, in jenen rätselhaften, abrupten Schlussakkord, der wirkt wie die in einem einzigen, grandiosen Tutti-Schlag zusammengefasste Musizierhaltung Metzmachers, das Credo eines Dirigenten, der nie Pultdiktator sein wollte, sondern immer nur ein Mensch, der seine Mitstreiter zum eigenständigen Denken ermutigt: Kommt ins Offene!