zum Hauptinhalt
Maria Callas im Oktober 1958 in Mailand.

© Credit: Rue des Archives/Farabol

Werner Schroeters Memoiren: Lasst Diven um mich sein

Meine Königinnen: Begegnungen mit Maria Callas und Marianne Hoppe. Aus den Memoiren des großen Film-, Theater- und Opernregisseurs Werner Schroeter.

Der wunderbaren Maria Callas begegnete ich in Paris das erste Mal persönlich. Das muss 1974 oder später gewesen sein. Ich war zu einem Festessen in der griechischen Botschaft eingeladen, und die Frau des Botschafters sagte: „Ich weiß, Sie würden gern neben Maria sitzen.“ Mit meinen zerrissenen Jeans und Stiefeln muss ich in der vornehmen Möblierung sehr punkig gewirkt haben. Maria Callas thronte auf zahllosen Seidenkissen und trug ein wunderschönes Balenciaga-Kleid in Smaragdgrün, herrlichen Schmuck dazu, und war wunderbar frisiert. Sie sah so schön aus, ganz nah. Da dachte ich mir, ich setze alles auf eine Karte. Wenn es eben hin ist, ist es hin. Ich benehme mich so, wie ich bin.

Zum Glück haben mich mein Wissen über die Musik und die intime Kenntnis des Lebenswerks von Maria Callas gerettet. Aber im Laufe unseres ernsthaften Gesprächs über die Aufnahme des Gastspiels der Mailänder Scala mit „Lucia di Lammermoor“ in Berlin 1955, Dirigent war Herbert von Karajan, hatte ich plötzlich den Impuls, Frau Callas am Ohr zu fassen, ihren Kopf zu drehen und sie mir genau anzugucken. Ein Moment Stille, ein Blick, ein bisschen Hmm-Aha. Wir wechselten dauernd zwischen Englisch, Französisch und Italienisch, und ich sagte: „Sie sind so schön, ich kann nicht glauben, dass Sie nicht geliftet sind. Wie kann man so schön sein?“ Sie antwortete bloß: „Vous êtes pardonné, Werner! Es ist Ihnen verziehen.“

So ging das weiter, ganz lustig. Ab einem bestimmten Moment wollte ich nicht mehr sitzen wie mit der Nase in der Tasse, ich wollte auch groß sein. Ich stieg also auf das Canapé und saß auf der Lehne, und sie guckte hoch und sagte: „Well, does it really make any difference to you?“ Ich rutschte wieder runter, der Humor dieser Frau war herrlich. Es war ein melancholischer Humor, der ihre Verletztheit ausdrückte.

Einmal sagte sie den Satz: „I’ve lost everything. My voice is done, it seems. I don’t have a man, I don’t have a child, isn’t it funny?“ Ich hatte dann doch etwas gewonnen. Als der Abend zu Ende ging und ihr Chauffeur das Zeichen zum Aufbruch gab, ließ sie mir ausrichten, ich möchte in den nächsten Tagen zum Tee kommen. So entwickelte sich eine herantastende, von mir als wunderbar empfundene Freundschaft, nein: Annäherung. Zur Freundschaft hätte man sich länger kennen müssen. Ich war ganz selig. Der Tag in der griechischen Botschaft hatte nämlich damit angefangen, dass ich in der Dusche hing und kotzte. Ich war bis abends so ausgekotzt wie die Callas vor einem Auftritt, denn sie übergab sich auch vor jedem Auftritt, entleerte sich oben und unten, damit sie wie eine reine Gestalt auf die Bühne ging. Ich dagegen übergab mich vor Aufregung. Da war ich in einem leichten Zustand, wie schwebend, als ich in die Botschaft kam.

Aber frech war ich doch, wie es sich gehörte. Sie erzählte mir einmal, dass sie nur Leute kenne, die Angst vor ihr hätten. Das schien mir ganz unmöglich, weil ich keine Angst vor ihr empfinden konnte. Sie war so freundlich und warmherzig und mit fünfzig Jahren noch wie ein kleines Mädchen. Ich fragte sie, ob ich nicht einen Artikel in die Zeitung lancieren solle, dass Maria Callas einen Mann sucht, ich sei sicher, dass sich viele melden würden. Sie amüsierte sich sehr darüber.

Eine noch schönere Geschichte: Einige Wochen vor Maria Callas’ Tod im September 1977 sprach ich mit ihr über Musiken, die man singen kann, auch wenn die obere Stimmlage angeschlagen ist. Das Thema musste ich sehr zart angehen. Sie sagte mir, sie wolle weiter versuchen zu singen. Durch Zufall fand ich eine Kassette auf ihrem Flügel. Als sie kurz den Raum verließ, stellte ich das Gerät an und hörte, was sie mit ihrer Korrepetitorin aufgenommen hatte. „Pace, Pace“ von Leonora aus dem Schlussakt von „Macht des Schicksals“, grandios gesungen. Allein konnte sie also anscheinend singen. Auf dem Flügel war die Partitur des „Barbier von Sevilla“, aus der Hand der Sängerin Maria Malibran.

Ich recherchierte jahrelang nach Liedern von María Malibran, als ich hörte, dass sie auch komponiert hat. Antoine, ein Freund, fand in der Bibliothèque nationale schließlich, was ich am meisten suchte, das Lied der Malibran „Tac, tac, qui battera sera la mort. Wer klopft an, es wird der Tod sein.“ Ich hatte keinen Briefumschlag und faltete diese Partitur für Maria Callas in ein altes Couvert, strich den Namen, an den der Brief vorher adressiert war, durch und schrieb ihre Adresse darauf. Es war schlampiges Punk-Verhalten, unverzeihlich und schandbar, aber immerhin hätte der Inhalt sie interessieren können. Es muss einer der letzten Briefe gewesen sein, die sie bekommen hat.

Als ich eines Tages im September 1977 in der Kantine im Bochumer Schauspielhaus saß, ich inszenierte dort gerade „Fräulein Julie“, kam Tamara Kafka herein und sagte: „Ach Werner, da bist du ja. Maria Callas ist heute gestorben.“

* * *

Marianne Hoppe Mitte der dreißiger Jahre.
Marianne Hoppe Mitte der dreißiger Jahre.

© Cinetext Bildarchiv

Als sie bereits 90 Jahre alt war, sagte Marianne Hoppe einmal zu mir, ein Künstler, der die Kindheit nicht in seiner Tasche hat, ist keiner und kann nie einer werden. Damit hat sie hundertprozentig recht. Deshalb sind Märchen so wichtig, denn man muss verstehen, was sie aus der Seele sprechen. Ein Kind nimmt alles auf, schaut alles an, und wenn es zu malen anfängt, vielleicht zuerst mit einem Griffel oder einem Bleistift, dann kommen die Farben hinzu, dann summt das Kind, während es malt, und erfindet kleine Melodien. Und auf einmal möchte es sich einen Hut machen und bastelt sich den aus gefundenem Zeug. So nimmt es alles auf und tut etwas damit, und es entsteht ein Gesamtkunstwerk zum Spielen.

Für mich ist die Kindheit selbst ein Gesamtkunstwerk im Sinne des Satzes von Marianne Hoppe.

Als ich zwölf Jahre alt war, gab es in Bielefeld, wo wir wohnten, ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters. Man spielte „Fast ein Poet“ von Eugene O’Neill mit Paula Wessely, Attila Hörbiger und Marianne Hoppe. Es war grrrauenhaft! Ich erlaube mir, das zu sagen, denn es war so schlimm, dass ich es schon als Zwölfjähriger merkte. Diese Schnulzenspielerei von der Wessely und diese – „Trombone“ sagt man in Italien – von Attila Hörbiger: „Uah Uah Uahhh!!“ Und dann tauchte auf: Deborah, die Frau aus der Vergangenheit von Melody, der männlichen Hauptfigur. Das war Marianne Hoppe in einem weißen Kostüm, die von rechts hinten nach links vorne über die Bühne kam. Ich saß da und sah etwas, das mich sofort fesselte. Danach versuchte ich ein Autogramm zu bekommen, ich glaube sogar, ich kniff sie in den Arm, um zu sehen, ob sie echt ist und was passiert.

Erst 1992 konnte ich sie als Zweitbesetzung von Martha Mödl für die „Ekklesiastische Aktion“ von Bernd Alois Zimmermann verpflichten. Wir sollten mit dieser Inszenierung am Schauspielhaus Düsseldorf in Los Angeles gastieren, aber Martha wollte nicht fliegen, sie hatte Angst, und deshalb suchte ich Marianne Hoppe in Berlin auf und bot ihr die Rolle an.

Es war die eigentlich ungeheuerste deutsche Komposition, „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne – Ekklesiastische Aktion“: der Dialog zwischen Großinquisitor und Christus anhand der Bibel und der „Brüder Karamasow“. Zimmermanns Zeitphilosophie hat mich fasziniert, seine Idee, dass die Sukzession der Zeit in unserer geistigen Wirklichkeit nicht existiert, was im Grunde realer ist als die Uhr. Martha Mödl spielte den Großinquisitor, und ich brauchte jemanden, der musikalisch genug war, das an ihrer Stelle in Los Angeles zu gestalten. Marianne sagte prompt: „Na, weißt du, Junge, was die junge Kollegin kann, das kann ich auch schaffen.“

Die eine war 80 Jahre alt, die andere 83. Wir fingen also an zu arbeiten. Sehr schön war das, ganz unterschiedlich zu der Art von Martha Mödl, die eine weiche, unglaublich herzensgute Person war. Marianne Hoppe war auch eine liebe, aber streng wirkte sie auf die Menschen doch, so dass sie vor ihr Angst hatten, aber für mich war sie immer eine ganz liebe Freundin. Martin Wuttke sagte später in „Die Königin“ unserem Film über Marianne, sie habe immer die große Dame gegeben und ihn fühlen lassen, dass er aus dem Ruhrpott kam.

Wir haben uns oft gesehen. Dann machten wir 1996/97 am Berliner Ensemble zusammen „Monsieur Verdoux“ nach Charles Chaplins Film, da spielte sie mit Martin Wuttke, Anna Thalbach, Zazie de Paris und anderen. Marianne war mit 88 Jahren die älteste Braut des Frauenmörders, nur eine kleine Rolle, die sie aber mit Grandezza über die Bühne brachte.

In dieser Zeit entstand eine immer engere Freundschaft zwischen uns. Ich besuchte sie in dem schrecklichen Altersheim am Berliner Zoo, in dem sie ganz unglücklich war. Ich nahm sie oft in Schwulenlokale mit. Zuerst sagte sie: „Das geht doch nicht, die haben Angst vor mir.“ Aber dann amüsierten wir uns gut, und es gefiel ihr sehr. Schließlich wollten wir mit ihr ein Porträt machen, solange sie noch mittun konnte, denn mit 90 ließ allmählich ihr Gedächtnis nach, und kurz nach unserem Film starb sie.

Leider ging die Produktionsfirma bankrott, so dass „Die Königin“ so gut wie nicht mehr zu sehen ist. Wir fuhren mit Marianne nach Felsenhagen in die Prignitz zu dem ehemaligen Gutshof, den sie als Kind so geliebt hatte und von dem sie weggegangen war, um Schauspielerin zu werden. Im Studio sprachen Judith Engel und Maren Eggert Szenen mit ihr – alles wie auf der Probe sehr konzentriert.

Marianne Hoppe hat sich von den Nazis und Goebbels zu nichts zwingen lassen. Was immer auch ihre Propagandafunktion und die zwielichtige Macht von Gustaf Gründgens für die Aufwertung des grauenhaften Nazi-Regimes bedeuteten, ich war der Ansicht, dass Marianne durch ihre Arbeit und ihr Leben nach dem Krieg gesühnt hat. Als ich unseren Film mit ihr zusammen präsentierte, sagte sie: „Als Verlobte grüßen Marianne Hoppe und Werner Schroeter. Is’ ja scheußlich, dieser Film!“ Dabei hat sie ihn sehr gemocht.

Regisseur Werner Schroeter. Zu seinen wichtigsten Filmen zählen „Palermo oder Wolfsburg“, „Liebeskonzil“ und „Malina“, er inszenierte auch zahlreiche Opern und Theaterstücke. Am 12. April 2010 starb Schroeter im Alter von 65 Jahren.
Regisseur Werner Schroeter. Zu seinen wichtigsten Filmen zählen „Palermo oder Wolfsburg“, „Liebeskonzil“ und „Malina“, er inszenierte auch zahlreiche Opern und Theaterstücke. Am 12. April 2010 starb Schroeter im Alter von 65 Jahren.

© dpa/p-a/H. Pfarrhofer

Werner Schroeter – mit Claudia Lenssen: Tage im Dämmer, Nächte im Rausch. Aufbau-Verlag, Berlin 2011. 228 S., 22,95 €.

Abdruck der leicht gekürzten Kapitel mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false