zum Hauptinhalt
Festakt im Gewandhaus. Maria Stepanova, die diesjährige Trägerin des Leipziger Buchpreises für Europäische Verständigung

© dpa/Hendrik Schmidt

Mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet: Maria Stepanova sucht nach einer neuen russischen Sprache

Weg von der Barbarei – in ihrer Dankesrede zum Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erklärt die Dichterin, wie das gehen soll.

Von Gregor Dotzauer

Stand:

Ein gesundes Pathos gehört zu Festakten wie der Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus. Und doch klingen spätestens nach dem dritten Grußwort die immergleichen Formeln vom aufklärerischen Charakter allen Lesens schal. Bücher sind nicht automatisch Werkzeuge der Demokratie.

Sie verführen, ganz gegen jede sonntagsrednerische Zuversicht, auch zu borniertem und autoritärem Denken. Sie sind Verdummungs- wie Erkenntnisinstrumente, und das liegt nicht nur an propagandistischen und hetzerischen Inhalten, die selbst innerhalb vermeintlich harmloser Gattungen wie der Dichtung bis heute zu Kriegsverherrlichung und Chauvinismus führen.

Das Missbrauchspotenzial verbirgt sich manchmal inmitten der größten literarischen Texte. Man kann einen düsteren Anthropologen wie Fjodor M. Dostojewski nicht deshalb marginalisieren, weil ihn Putin, der angeblich ganze Romanpassagen auswendig zitieren kann, ins Zentrum seiner Literaturpolitik gestellt hat. Man braucht eine gut trainierte Ambiguitätstoleranz, um sich Dostojewski auszusetzen – und die Entschlossenheit, ihn sich nicht von den Falschen wegnehmen zu lassen.

Entdecken wir die Welt, die uns zu Füßen liegt!

Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der Buchmesse

Es war sicher nicht das, was ausgerechnet die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth meinte, als sie mit kämpferischem Dauerfrohsinn die Buchmessengäste aufforderte: „Entdecken wir die Welt, die uns zu Füßen liegt!“ Ihr Appell erinnerte fatal an das alttestamentarische „Macht euch die Erde untertan!“ Vielleicht hält man es besser mit W.H. Audens „Poetry makes nothing happen“. Denn ist Machtlosigkeit nicht ein Segen?

Maria Stepanova griff Audens berühmte Worte in ihrer Dankesrede zum Buchpreis für Europäische Verständigung auf – nicht ohne den Wunsch ihres 1942 während der Leningrader Blockade in einem Gefängnis verhungerten russischen Landsmann Daniil Charms hinzuzufügen. Er träumte vergeblich davon, „dass, wenn man ein Gedicht durch ein Fenster wirft, das Glas zerbricht.“

„Poetry makes nothing happen“: Diese halbe Zeile aus Audens großem, 1939 schon im Bewusstsein des Krieges verfassten Epitaph auf seinen irischen Kollegen William Butler Yeats ließe sich auf Leipzig bezogen übersetzen mit: Buchmessen richten nichts aus.

Doch abgesehen davon, dass es die Ironie ignorieren würde, mit der Auden beklagt, dass Irland trotz Yeats seinen Wahnsinn und sein Wetter nicht verloren habe: Es würde die Haltung dieses wie Stepanova politisch hellwachen Dichters unangemessen verkürzen.  Der Raum, den Poesie beansprucht, deckt sich nun einmal nicht mit dem Raum, in dem sich Politiker einmischen: „It survives / In the valley of its making where executives / Would never want to tamper.“

Gedichte wie Zeugnisse

Gedichte, so Stepanova, haben Butscha und Mariupol nicht verhindern können und stehen über Zeiten und Räume hinweg doch in einem permanenten Gespräch miteinander: „Meist gelangen Gedichte in die Zukunft wie tote Gräser in den Boden – sie werden zu Humus, zu Erde, zu dem Stoff, aus dem die Texte anderer Leute wachsen.“ Sie legen Zeugnis ab, und sie trauern um die Toten.

Stepanova selbst tut dies in ihrer russischen Muttersprache, einer Sprache, von der sie selbst am besten weiß, dass sie „ein Sprachrohr des Wahnsinns und der Barbarei“ geworden ist, infiziert „mit dem tödlichen Virus der Vergangenheit“.

Ich spreche und schreibe in einer Sprache, die ihr eigenes Leben zusammen mit dem Leben anderer auslöscht.

Maria Stepanova, Trägerin des Buchpreises

Es ist eine kontaminierte Sprache, wie es für Paul Celan, den sie schon in jungen Moskauer Jahren las, seinerzeit das Deutsche war: „Ich spreche und schreibe in einer Sprache, die ihr eigenes Leben zusammen mit dem Leben anderer auslöscht.“ Diese Sprache gegen ihre Vergewaltiger zu verteidigen und von Grund auf zu reinigen, ist das Projekt ihres polyphonen, in allen Himmelsrichtungen rettende Stimmen einsammelnden Schreibens.

Von der Würde, die es dabei jenseits aller imperialen Anmaßungen zu retten gilt, wusste auf seine Weise Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu erzählen. In freier Rede sprach der im Tiroler Kaunertal aufgewachsene Sohn russisch-estnischer Eltern als Vertreter des Gastlandes von der mundartbedingten Mehrsprachigkeit aller Alpenrepublikaner: Das habsburgische Erbe spielt wohl gar nicht die entscheidende Rolle.

Es gebe eine „Anderthalbsprachigkeit“, die schon daraus resultiere, dass man in den eigentlich überschaubaren Weiten des Landes die Bewohner am jeweils anderen Ende gar nicht verstehen könne, wenn man über die eigene Regionalsprache hinaus nicht noch eine Art, so nicht existierendes Hochösterreichisch spreche.

Da war, voller lebendiger Beispiele, auf einmal ein ganz anderer, erfrischender Politikerton zu hören. Dass der Gastlandauftritt mit dem Kunstdialektwort „meaoiswiamia“ (Mehr als wir) dabei unter einem Motto steht, das sich weder Wien noch Klagenfurt zurechnen lässt, ist eine hübsche Pointe am Rande: Es handelt sich um ein winziges Stück Literatur.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })