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Helmut Baumann als Zaza in dem Musical „La Cage aux Folles“ am Theater des Westens

© picture-alliance/dpa/Konrad Giehr

LGBTQ-Musicalführer: Queer und fabelhaft

Vielfalt auf der Bühne feiern: Kevin Clarke hat im Berliner Querverlag einen Sammelband über „die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals“ herausgegeben.

Irre: 38 Jahre ist das jetzt schon wieder her! Mit der deutschen Erstaufführung von „La Cage aux Folles“ am Theater des Westens“ gab Helmut Baumann 1985 den Startschuss für den Aufstieg des damals ziemlich piefigen West-Berlins zur Entertainmentmetropole.

Als Intendant, Regisseur und Hauptdarsteller in einem gelang Baumann bei Jerry Hermans Musical der Erfolgs-Hattrick: Die Show um den Franzosen Albin, der sich abends im Kabarett in die glamouröse Travestie-Diva Zaza verwandelt, schlug ein wie eine Konfettikanone – und veränderte das Leben unzähliger Menschen.

Und darum findet sich in der ersten wissenschaftlich fundierten Publikation zur „wunderbaren Welt des LGBTQ-Musicals“, die unter dem Titel „Breaking Free“ jetzt im Berliner Querverlag erschienen ist, natürlich ein Interview mit Helmut Baumann. „Mir war nicht klar, dass es so etwas Besonderes werden würde. Das begriff ich erst nach circa 800 Vorstellungen“, sagt der 1939 geborene Tänzer und Theatermacher rückblickend. „Viele haben mir später erzählt, dass dieses Musical und das erfolgreiche Cast-Album ihr Coming-Out befördert hätten.“

In Deutschland wird auf das Genre Musical herabgeblickt

Am 28. Januar, wenn an der Komischen Oper Barrie Koskys Neuinszenierung von „La Cage aux Folles“ Premiere feiert, wird Helmut Baumann mit auf der Bühne stehen. Wieder in Drag, aber nicht in der Hauptrolle, sondern altersgerecht als Restaurantbesitzerin Jacqueline.

Und natürlich kommt in „Breaking Free“ auch der Mann zu Wort, der als Intendant der Komischen Oper die jüngste hauptstädtische Unterhaltungstheater-Renaissance angestoßen hat. Barrie Kosky nutzt das Vorwort für eine gnadenlose Abrechnung: In Deutschland und Österreich, schreibt er, würden Musicals als „das Niedrigste vom Niedrigen betrachtet“. Vor allem vom akademisch gebildeten Teil der Bevölkerung.

In Koskys Heimat Australien war das ganz anders. „Meine Liebe zu Musicals wurde von meiner Umwelt nicht als etwas Ungewöhnliches angesehen. Ich galt deshalb nicht als der Außenseiter oder als der Schwule, der die Show-Tunes liebt“ – weil in der gesamten englischsprachigen Welt Musicals quer durch alle Gesellschaftssichten geschätzt werden, als genuiner Teil der Kulturszene.

Paillettenschimmer am Horizont

Aber Kosky wäre nicht Kosky, wenn er nicht auch einen Paillettenschimmer am Horizont sehen würde: „Die Genderfluidität der jungen Generation und ihre internationale Vernetztheit werden Dinge verändern und Deutschland aus der Provinzialität herausholen. Davon profitiert irgendwann auch das Musical. Ich bin überzeugt: The kids are gonna save us!“

Bis es so weit ist, kann eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema hilfreich sein, findet „Breaking Free“-Herausgeber Kevin Clarke. Doch an deutschen Hochschulen forscht kaum jemand zum Genre, während in den USA und in Großbritannien auf breiter Front Musical Theatre Studies betrieben werden. Davon wird in dem neuen Band nun ausführlich berichtet, in hochseriösen, faktenreichen Aufsätzen. Zur Auflockerung sind Interviews eingestreut mit Stars wie Pierre Sanoussi-Bliss, Christoph Marti, Dagmar Manzel und Rosa von Praunheim. Fotos gibt es keine - umso mehr ist die Fantasie der Leser:innen gefragt.

Judy Garland und Barbra Streisand als Idole

Dass es viele Stücke mit LGBTQ-Themen nie von New York an die deutschen Stadttheater schaffen, wird von verschiedenen Autor:innen bedauert. Gleichzeitig aber findet sich immer wieder der Hinweis darauf, dass schwule Musicalfans gar nicht so sehr daran interessiert sind, schwule Charaktere auf der Bühne zu sehen. Viel lieber identifizieren sie sich mit heterosexuellen weiblichen Charakteren, von allem wenn sie von flamboyanten Diven wie Judy Garland oder Barbra Streisand verkörpert werden.

Umgekehrt wiederum fühlten sich viele Frauen explizit von Stücken mit homosexuellen Musicalfiguren wie der „Rocky Horror Show“ angezogen. Sie ermöglichen ihnen nämlich eine Auszeit von der toxischen Männlichkeit, die sie im Alltag umgibt.

Ursprünglich - auch das erfährt man aus dem ebenso anspruchsvollen wie informativen Band - war das Zielpublikum der Broadway-Musical-Produzenten der „erschöpfte Businessman“, der sich „nach Martinis und Dinner“ in Begleitung der Gattin ein Showvergnügen gönnt.

Schwule Fans mussten das ganze 20. Jahrhundert über dann eben ihre eigene, queere Lesart für die holzschnittartigen, heteronormativen Liebesgeschichten entwickeln. „Zum Mainstream-Zuschauer, der fragt, ob’s denn nötig sei, aus allem immer eine solche große Provokationsnummer zu machen“, resümiert Kevin Clarke, würden die weiblichen Musicalstars – und mit ihnen das ganze Genre – sagen: „Ja, es ist nötig und dafür muss man sich nicht schämen, sondern das Barocke und Exaltierte und Andersartige zelebrieren.“

Oder um mit Albin/Zaza aus „La Cage aux Folles“ zu sprechen: „Es hat keinen Sinn, wenn man nicht sagt: Hey Welt, ich bin, was ich bin!“

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