Kultur: Literatur: Was wir wussten
Mädchen und Jungen rennen fröhlich umher. Deren Mütter und Väter stehen sonntagsfein neben den Honoratioren des Ortes oder schlendern ein bisschen umher.
Mädchen und Jungen rennen fröhlich umher. Deren Mütter und Väter stehen sonntagsfein neben den Honoratioren des Ortes oder schlendern ein bisschen umher. Sie alle sind 1941 oder 1942 in Meckenbeuren bei Friedrichshafen dabei, als eine Frau mit geschorenen Haaren durch die Straße zum Bahnhof getrieben wird. Was die Leute von ihr halten, haben sie auf drei Schilder geschrieben: "Das ist eine Polendirne. Pfui Teufel." Weil sie sich mit einem polnischen Zwangsarbeiter eingelassen haben soll, wird sie aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen, in aller Öffentlichkeit, vor aller Augen.
Vor aller Augen: Das ist auch der Titel einer soeben erschienenen Fotosammlung über Diskriminierungen, Demütigungen und Deportationen in Deutschland während des Dritten Reiches. Mehr als 350 Bilder haben Klaus Hesse und Philipp Springer zusammengestellt, aus Beständen kleinerer Archive, die die Mitarbeiter der Stiftung Topographie des Terrors seit 1998 gesichtet haben. Alle Fotos haben eines gemeinsam: Sie zeigen, was die Opfer des Regimes, vor allem Juden, in Dörfern und kleinen Städten erleiden mussten. Eine erschütternde Dokumentation über den alltäglichen Terror in der deutschen Provinz, über Zuschauer, Mitläufer, Profiteure und Täter.
Zumeist stammen die Aufnahmen von Privatleuten. Es galt, einen besonderen Augenblick festzuhalten. Dazu gehörten während der Nazizeit eben auchÜbergriffe gegen Menschen, die als regelrechte Spektakel für das Dorf von lokalen Funktionären inszeniert wurden. Die Öffentlichkeit war kein Zufall, sie war ein wichtiger Bestandteil des Herrschaftssystems. Zum einen sollten die Aktionen abschrecken. Zum anderen wurden die Anwesenden zum Bestandteil einer Gemeinschaft gemacht, die andere aus ihrem Kreis verstieß.
Geheime Reichssache?
Was bewog die Knipser, brennende Synagogen und Haarschuraktionen zu fotografieren? Waren die Bilder Ausdruck ihres Antisemitismus, ihrer Loyalität gegenüber dem Regime? Eine eindeutige Antwort können die Autoren des Buches auch nicht geben. Als Akt des Widerstands können die Aufnahmen aber wohl nur in Ausnahmefällen gelten. Auch als Alibi kommen sie nicht in Frage. Bilder von Leichenbergen in weit entfernten Konzentrationslager mussten nach dem Krieg als fadenscheiniges Argument dafür herhalten, von allem nichts gewusst zu haben. Das funktioniert mit den jetzt publizierten Fotos nicht. Denn die zeigen: Die Verfolgung der Juden fand nicht im Verborgenen, weit im Osten oder in geheimen Folterkellern statt. Sie geschah für alle sichtbar.
"Geheime Reichssache" waren dagegen die Ergebnisse der berüchtigten Wannsee-Konferenz. Am 20. Januar 1942 kamen auf Einladung Reinhard Heydrichs 15 hochrangige Vertreter der NS-Reichs- und Parteiorganisationen in der repräsentativen Villa zusammen. Einziger Tagesordnungspunkt: "Besprechung über die Endlösung der Judenfrage". Gut anderthalb Stunden brauchten die Bürokraten, um sich auf die "Evakuierung" von elf Millionen europäischen Juden zu verständigen. Damit hatten sie der Shoa ein organisatorisches Gerüst gegeben. Die Ergebnisse des Gesprächs wurden später im so genannten Wannsee-Protokoll festgehalten, dem "vielleicht schändlichsten Dokument der modernen Geschichte", wie die amerikanischen Ankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen es nannten.
Ein Cognac am Wannsee
Die 15 Seiten und ihre Bedeutung sind Teil der Ausstellung "Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung", die das Deutsche Historische Museum anlässlich des 60. Jahrestages der Wannseekonferenz ab morgen im Kronprinzenpalais zeigt. Dann wird auch Mark Roseman sein neues Buch über die Konferenz und ihre Vorgeschichte präsentieren. Dem britischen Historiker ist es auf gerade mal 150 Seiten gelungen, gleich zwei Standardwerke zu schreiben: eines zu der Tagung selbst, das andere über Deutschlands Weg in den Holocaust.
Roseman hält das Wannsee-Protokoll für den "bedeutenden Schlussakt im Prozess der Verwandlung des Massenmords in den Genozid". Es sei ein Hinweis darauf gewesen, dass der Völkermord an den Juden zur offiziellen Politik geworden war. Wie kam es dazu? Dass das Regime lange vor 1942 massenhaft im Osten mordete, daran besteht kein Zweifel. Doch erst im Herbst und Winter 1941 - das kann Roseman überzeugend nachweisen - entschloss sich Hitler, Europas Juden systematisch zu vernichten.
Ein entscheidendes Datum dürfte der September gewesen sein. In diesem Monat genehmigte der Führer die Deportation deutscher Juden. Offenbar hatte der Diktator das Interesse an ihnen als möglichen Geiseln verloren. Denn es zeichnete sich bereits ab, dass die USA einen Krieg mit Deutschland für unumgänglich hielten. So nahm das Konzept des Genozids Gestalt an. Die Wannsee-Konferenz diente folglich dazu, "andere Behörden und Dienststellen mit ins Boot zu nehmen". Und das gelang Heydrich. Der SD-Chef war mit dem Tag so zufrieden, dass er sich ausnahmsweise etwas Besonderes gönnte: eine Zigarette und einen Cognac. So viel Menschliches überraschte sogar Adolf Eichmann.