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Kulturrevolution in China: Der Klang der Freiheit

Die Pianistin Zhu Xiao-Mei schreibt über die Beharrungskraft der Musik in Zeiten des Terrors.

Es ist eigentlich kein politisches Buch, das die chinesische Pianistin und Wahlfranzösin Zhu Xiao-Mei über ihr Leben geschrieben hat. In Frankreich, wo es vor zwei Jahren zuerst erschien, ist es dennoch so gelesen worden; nicht ohne Grund und Hintergrund, denn seine Passagen über ihr Erleben und Erleiden von Maos Kulturrevolution fügen sich gut in den Diskurs der französischen Intellektuellen über Terror, Gulag und Säuberungen im sowjetischen, chinesischen und indochinesischen Kommunismus. Die deutsche Verlegerin Antje Kunstmann hat sich wohl aus ähnlichen Gründen dafür entschieden, den poetischen Titel der Originalausgabe „La Rivière et son secret“ durch einen politischen zu ersetzen: „Von Mao zu Bach. Wie ich die Kulturrevolution erlebte.“

Das ist, zumindest für den ersten Teil des Buches, keine falsche Charakteristik. Zhu Xiao-Mei hat sich zögernd, aber dann doch bewusst entschieden, als Musikerin über diese Zeit ihres Lebens zu berichten. „Ich hatte mir auch das moralische Recht dazu abgesprochen, weil ich nicht so gelitten habe wie andere Chinesen meiner Generation, bei weitem nicht. Doch wie immer im Leben hat jeder Mensch, jedes Ding zwei Seiten. In mir regte sich der Wunsch zu schreiben, zunächst für die Opfer der Kulturrevolution. Vierzig Jahre nach den Ereignissen wird kaum mehr über sie gesprochen, und ich habe oft festgestellt, wie wenig man im Westen über sie weiß.“ Sie wolle endlich verstehen, „wie die großartigen Ideen der Kommunisten zu dieser Katastrophe führen konnten.“

Das ist die eine, die politische Seite des Buches, dessen beide Teile – der zweite berichtet vom Leben im amerikanischen Exil und ihrer zweiten Heimat Frankreich – gleichwohl vom musikalischen und philosophischen Dialog der Kulturen handeln. Die chinesische Pianistin gliedert es nach dem Vorbild von Bachs Goldberg-Variationen in dreißig Kapitel und eine Aria, die es eröffnet und beschließt: In der Hoffnung, ihre Leser für einen Dialog der Kulturen zu gewinnen – „für die Lust, Bach zu hören, neu zu hören, und den großen chinesischen Philosophen Lao-Tse zu lesen, neu zu lesen. Denn diese beiden gleichen einander; in ihnen begegnen sich die chinesische und die westliche Kultur.“

Auf Lao-Tse beruft sich auch ihr Urteil über den Politiker Mao, der viele Hoffnungen geweckt, aber Millionen Menschen physisch und hunderte Millionen seelisch vernichtet habe. Aus Furcht vor dem Verlust der Macht nach dem Scheitern des „Großen Sprungs nach vorn“ habe Mao mit der Kulturrevolution „die zynische Flucht nach vorn angetreten und nie den Mut gehabt, sich zu seinen Fehlern und Verbrechen zu bekennen.“ Ein guter Anführer, heißt es dagegen bei Lao-Tse, ordnet sich unter.

Sie selbst hat sich allzu lange untergeordnet, befindet sie im Rückblick. Als Tochter eines Arztes und Enkelin von Kaufleuten galt sie in der Kulturrevolution als „Chushen Buhao“, als schlechter Herkunft. Ihr Klavier, auf dem sie schon als Achtjährige Konzerte für Funk und Fernsehen gibt, gilt plötzlich als „schädliches Element“. Ihr Lehrer am Konservatorium verstößt sie, als sie von Mitschülerinnen wegen eine Schülerstreichs – sie klettert heimlich aufs Dach des Hauses – denunziert wird, sie habe Selbstmord begehen wollen. „Ich weiß noch nicht, dass Selbstmord in einem totalitären Regime das schlimmste aller Vergehen ist, ein Akt der Rebellion, der bedeutet: Ich bin in eurem System nicht glücklich, ich will sterben.“ Zhu Xiao-Mei muss sich Kritik und Selbstkritik unterziehen, verliert jedes Selbstwertgefühl. Und es kommt noch schlimmer: Eine Mitschülerin, Tochter eines Funktionärs, denunziert das ganze Konservatorium in einem Brief an den Großen Vorsitzenden als Hort der Konterrevolution: Die Schüler schwärmen für Tschaikowsky, tragen Beethoven-Frisuren und eine von ihnen habe wegen westlicher Musik beinahe Selbstmord begangen. Der Große Vorsitzende antwortet persönlich: „Für das Problem muss eine Lösung gefunden werden. Die Kultur des Westens muss unserem Land dienen.“

Unter dem Druck des Kollektivs passt sich Zhu Xiao-Mei an, entfremdet sich ihrer Familie und ist nach einem Jahr „Umerziehung“ überzeugt, „dass mit Bach, Mozart und Beethoven endgültig Tabula rasa gemacht werden muss: Wir dürfen nur noch authentische proletarische Musik spielen.“ Zhu Xiao-Mei zieht mit den Roten Garden durchs Land, „von der Musik sind nur noch die Yanbanxi geblieben, die von Madame Mao in Auftrag gegebenen ,Modellstücke‘, sowie einige albanische Werke, die wir den Freundschaftsbeziehungen zwischen China und Albanien verdanken.“ Wenig später werden alle Studenten der Pekinger Kunsthochschulen in Umerziehungslager verschickt, um ihre Klassenverbundenheit mit den Bauern zu beweisen.

Für Zhu Xiao-Mei werden daraus fünf Jahre an der Grenze zur Inneren Mongolei, zuletzt in einem Lager namens Dayu („Großes Gefängnis“), das mit Mauern und Stacheldraht gesichert ist. Hier schmiedet sie „einen verrückten Plan: mein Klavier aus Peking kommen zu lassen.“ Mit List und Freundeshilfe gelingt es, auch wenn mehrere gesprungene Saiten durch Draht ersetzt werden müssen. Noch wird offiziell Yanbaxi geübt, „doch wir dürfen auch Beethovens Appassionata spielen, weil jemand herausgefunden hat, dass es Lenins Lieblingsstück war.“ 1974 kann sie nach Peking zurückkehren, zu ihrem alten Lehrer, der selbst gerade aus einem Lager entlassen ist. In Maos Todesjahr 1976 gibt sie ihr erstes Konzert. 1977 werden die Konservatorien wieder eröffnet, Isaac Stern unterrichtet sogar 1979 eine Meisterklasse am Pekinger Konservatorium. Dabei entsteht ein Film, „Von Mao zu Mozart“.

Für Zhu Xiao-Mei beginnt der Weg von Mao zu Bach. 1980 erwirkt sie ein Visum in die USA, via Hongkong. Sie wird sich mit Putzarbeiten, Kellnern und Babysitting durchschlagen, bis sie als 33-Jährige ihr Diplom am New England Conservatory macht. Sie wird Lehrerin an einer Musikschule, Organistin bei Christian Science, verdient sich das Geld für eine Europareise und ein Vorspiel bei Marian Rybicki in Paris. Durch eine Scheinehe US- Staatsbürgerin, beantragt sie die französische Staatsbürgerschaft. Gibt ihr erstes Konzert in Paris mit Bachs Goldberg-Variationen. Ihre erste CD muss sie selbst finanzieren, als der Verleger Pleite macht.

Doch für Chinesen – so schreibt sie – „beginnt das Leben mit vierzig. Ich denke gern daran, denn in diesem Alter habe ich meine ersten Erfolge.“ Einer davon führt sie nach Hoyerswerda, mit einem Abstecher nach Leipzig. In der Thomaskirche steht sie an der Grabstätte Bachs und sagt zu ihrer Freundin: „Jetzt kann ich sterben. Mein wichtigster Wunsch ist in Erfüllung gegangen.“ Fast stirbt sie tatsächlich, sie bekommt Krebs, übersteht eine Operation und besucht noch einmal China, sogar ihr altes „Gefängnis“. Dort hat sie einen Traum: Mit ihren früheren Lagerkameraden eine Musikschule zu eröffnen, die Stipendien vergibt, „denn wer heute an den Konservatorien von Peking oder Schanghai studieren will, muss reich sein.“ Oder ein Vorbild finden wie sie.


Zhu Xiao-Mei: Von Mao zu Bach. Wie ich die Kulturrevolution überlebte. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 288 Seiten, 19,90 Euro.

Hannes Schwenger

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