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Die Gesellschaft im NS - ein Streitthema der historischen Forschung: Die völkische Moderne

Michael Wildt beschreibt die NS-Gesellschaft als eine der trügerischen Gleichheit.

Dass alle Gewalt vom Volke ausgeht, lässt sich schwerlich bestreiten – ob es die Bastille stürmt, Synagogen anzündet, die Stasizentrale besetzt oder Flüchtlingsheime in Brand setzt. Michael Wildt, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, spricht deshalb mit Recht im Titel seines jüngsten Buches von der „Ambivalenz des Volkes“. Es handelt sich um eine Sammlung von Beiträgen aus den Jahren 1997 bis 2018 zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, seinem Forschungsschwerpunkt als Historiker. Als solche sprengt sie die verkürzte Darstellung des NS-Staats als totalitäre Herrschaft und bringt stattdessen das Zusammenwirken staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt in der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ zur Sprache.

Stimmt das mit der "Wohlfühldiktatur"?

Das Thema wird nicht erst seit Götz Alys Darstellung des Nationalsozialismus als volkstümliche „Wohlfühldiktatur“ debattiert. Darüber lässt sich trefflich streiten, wenn Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von 2003 den Schein der schönen Harmonie durch eine „häufig überschätzte Sozialpolitik“ mit der Exklusion zu Gemeinschaftsfremden erklärter Teile der Bevölkerung – Juden, Regimegegner und „Asoziale“ – konfrontiert. Aber auch Wehler erkennt im Schein der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als „sozialharmonische Überwindung des Klassenantagonismus“ eine „verführerische Neukonstruktion der Nation“.

Dass sie ihrerseits auf völkisch-ethnischer Identität und Rassenantagonismus beruht, ist Wildts Generalthema in den 17 Beiträgen seines Sammelbands. Er verfolgt den politischen Begriff und die Vorgeschichte der Volksgemeinschaft seit dem 19. Jahrhundert und ihre theoretische, rechtliche und praktische Ausformung im NS-Staat. Anhand von Archivfunden aus der deutschen Provinz, den Tagebüchern Victor Klemperers und Analysen zeitgenössischer Fotografien zeichnet er die Alltagspraxis antisemitischer Boykotte, öffentlicher Denunziation und Austreibung aus dem deutschen „Volkskörper“ nach. Ein eigenes Kapitel gilt der Kehrseite der Sozialharmonie in der pervertierten Vergemeinschaftung durch Dienstpflicht („Reichsarbeitsdienst“) für Volksgenossen und Zwangsarbeit für die Ausgestoßenen der Volksgemeinschaft in Arbeits- und Konzentrationslagern.

Vollbeschäftigung schafft Akzeptanz

Es war sicherlich „verführerisch“, dass die neue Volksgemeinschaft mit einer „legitimatorischen Konjunkturpolitik von der Massenarbeitslosigkeit zur Vollbeschäftigung“ mit technischem Fortschritt, Massenkonsum und modernen Medien einherging. Aber, wie die scheinegalitäre Partizipation in Massenorganisationen, auch trügerisch. Denn es handelte sich, wie im ganzen NS-Staat, nicht um demokratische Teilhabe, sondern um Gefolgschaft. Auch die „moderne“ Mobilität durch Autobahnbau und Motorisierung entpuppte sich als Mobilisierung für den Kriegsfall, in dem statt der verheißenen Volkswagen die Kübelwagen der Wehrmacht über die Autobahnen rollten.

Gegen Götz Aly macht Michael Wildt geltend, dass es in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft keine wirkliche oder gar sozialistische Egalität gab, geschweige denn Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit der Person. Für Hermann Göring konnten ohnehin „nur Volksgenossen Rechtsgenossen“ sein, aber auch für die galt: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Hans Frank, Hitlers Anwalt und „Reichsrechtsführer“, der 1933 die „Gleichschaltung“ der deutschen Justiz organisierte, dekretierte schlicht: „Alles, was dem Volk nützt, ist Recht; alles, was ihm schadet, ist Unrecht.“

Der "Führer" schafft das Recht

Den Weg dahin hatte schon in der Weimarer Republik, deren Verfassung eine anders verstandene Volksgemeinschaft zum Ziel hatte, der Staatsrechtler Carl Schmitt gebahnt. Für ihn verkörperte auch nicht das Parlament als Forum der pluralistischen Interessen im Volk die Staatseinheit, sondern die Autorität des direkt gewählten Reichspräsidenten. Als „Kronjurist“ des „Dritten Reichs“ argumentierte Schmitt, das „Lebensrecht“ des „artgleichen“ Volkes sei die Quelle aller Gesetze und der „Führer“ dessen Repräsentant und oberster Gerichtsherr. Damit ließ sich selbst die gesetzlose Ermordung des SA-Führers Röhm und des letzten Reichskanzlers der Republik vor Hitler, Kurt von Schleicher, als übergesetzlicher „Staatsnotstand“ rechtfertigen.

Willkür und Normen gehen Hand in Hand

Michael Wildt setzt in vier Beiträgen zur politischen Theorie des Nationalsozialismus Schmitts totalitärem Führerstaat Ernsts Fraenkels Charakteristik der NS-Herrschaft als „Doppelstaat“ entgegen. Fraenkel beschrieb ihn als Dualismus von Normen- und Maßnahmenstaat, in dem die Willkürmaßnahmen der Diktatur mit dem Bedürfnis nach Normensicherheit konkurrieren, bis sich die Rechtsordnung in Chaos auflöst oder durch eine neue Rechtsordnung völkischer und rassistischer Ungleichheit überformt wird.

In seinem kleinen, vor zwei Jahren erschienen Buch „Volk, Volksgemeinschaft, AfD“ hat Wildt vor dem Rückfall in eine identitäre – völkische, rassistische – Konstruktion von Volksherrschaft gewarnt, wenn er die AfD auf dem Weg zu einer „Partei des gesunden Volksempfindens“ sieht. Er selbst hält einen identitären, homogenen Volksbegriff in einer durch Globalisierung und Migration geprägten Welt für historisch und politisch überholt und bekennt sich zu Angela Merkels (unausgesprochener) Maxime: „Alle sind das Volk“.

Michael Wildt: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte. Suhrkamp Verlag (stw 2280), Berlin 2019. 424 S., 24 €.

Hannes Schwenger

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